Seite: Home-Site / Bücherregal / UdSSR&Stalinismus/ Boris Jelzin auf der 19. Gesamtkonferenz der KPdSU

 

Auszug aus

 

E. Krenz „ Gefängnisnotizen“

 

(edition Ost . ISBN 978-3-360-01801-4

 

 Zitat aus einem Antwortbrief  an Schorlemmer

 

In der DDR scheiterte ein Sozialismusversuch, der denkbar schlechte historische Voraussetzungen hatte. Er wurde in seiner wechselvollen Geschichte oft geschwächt und durch ungleiche Kriegslasten und ökonomische Blockaden zum Ausbluten frei­gegeben. [...] Sie fragen, warum sich eine Gruppe im Politbüro nicht entschieden auf die Seite eines demokratischen Sozialis­mus gestellt hat. Das ist in der Tat die Gewissensfrage. Es war wohl eine verhängnisvolle Mischung von Pflichtauffassung, falsch verstandener Parteidisziplin, ungenügendem Wissen um wissenschaftlich-technische und geistige Umwälzungen in der Welt, ehrlicher Überzeugung, Irrtum, Opportunismus und der Sorge, Streit würde als Schwäche ausgelegt.

Hinzu kommt ein vereinfachtes Sozialismusverständnis und die daraus resultierende Auffassung, eine Gesellschaft ließe sich mit Beschlüssen regieren. Die Mitschuld am Scheitern der DDR belastet mich sehr, viel mehr, als ich dies einem bundesdeutschen Gericht und einem Staatsanwalt zu offenbaren bereit war, der Nazis laufen ließ und DDR-Bürger regelrecht jagt. Ich achte daher sehr darauf, wer den Stein in Richtung Politbüro wirft. [...] Glauben Sie mir, bitte, dass ich mit meiner eigenen Vergangenheit durchaus kritisch umgehe, auch wenn ich meine Freunde ganz "undifferenziert" verteidige. Natürlich gibt es ehemalige politische Weggefährten, die ihre frühere Gesinnung für ein bisschen Macht oder ein bisschen weniger Verfolgung verhökern. Diese meine ich nicht. Doch es gibt mir eine Vor­stellung, wohin Ihre Angst vor falschem Beifall geht. Wir mögen in vielem unterschiedlicher Meinung sein. Ich glaube aber nicht, dass Sie sich opportunistisch verbiegen oder sich mit Leuten umgeben würden,die ihren christlichen Gerechtigkeitssinn in die Opferschale politischer Räson werfen. Sind da nicht Pfarrer,die rote Socken anprangern?

Die fragen, wo man hinkommt, wenn Abgeordnete ihrem Gewissen folgen? Die auf Bestellung zeit- und themengerecht MfS-Dossiers liefern? Die einen sächsischen Arzt durch falsche Gehirnwäsche-Vorwürfe in den Ruin treiben? Die DDR-Diplomaten mit fabelhaften Landeskenntnissen ungeprüft für politisch untauglich erklären? Die mit der Losung >Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkendem< zum Grab von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg marschierten und diesen Marsch nie wieder auf sich nahmen, als sie diese Freiheit als erreicht ansahen?

 

Würden Sie mir zustimmen, dass hier christliche Ethik den Kniefall vor der herrschenden Politik machte? Ich glaube, dass Sie beneidenswert anders sind. Ich hätte diesen Dialog lieber vor 1989 mit Ihnen geführt.«

Diese Seite bitte nicht  von einer anderen Internetseite verlinken, vgl. "Zugang"