Um Haaresbreite  (Able Archer 83 )

Artikel von Markus Kompa 10.11.2015

 

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USA geben Geheimbericht von 1990 zu Able Archer 83 frei

Nachdem Präsident Ronald Reagan Anfang der 1980er Jahre das Klima zwischen den Supermächten vom Tauwetter wieder zur Eiszeit gewandelt hatte, befürchteten die Strategen in Moskau einen nuklearen Überraschungsangriff. Lange war umstritten, wie real die sowjetische Kriegsangst von 1983 und damit das Risiko eines versehentlich eingeleiteten Gegen- oder gar Präventivschlags tatsächlich gewesen war. Eine nun freigegebene Studie für die außenpolitischen Berater der Regierung Bush von 1990, der alle geheimen US-Quellen zur Verfügung standen, kommentierte: "on a hair trigger". 

Der letzte Tag ). Den Historikern des National Security Archive der George Washington University gelang es nach zwölf Jahren Kampf, die Freigabe des ultrageheimen Berichts für das President's Foreign Intelligence Advisory Board (PFIAB) aus dem Jahr 1990 zu erwirken. Damit liegt die bislang vollständigste Regierungsanalyse zu dem Drama vor, das selbst konservative US-Insider für gefährlicher als die Kubakrise halten. Dem PFIAB-Bericht ist ein Zitat des damaligen Politbüro-Mitglieds Michail Gorbatschow vorangestellt: Wahrscheinlich niemals in den Nachkriegsjahrzehnten war die Weltlage explosiver und daher schwieriger und ungünstiger als in der ersten Hälfte der 1980er Jahre.

In der Regierung Reagan konnte sich laut dem PFIAB-Bericht niemand vorstellen, dass die Sowjets in Friedenszeiten mit einem Überraschungsschlag rechneten. Offenbar hatte man in Washington verdrängt, dass seit 1945 ultrarechte Generäle wie Curtis LeMay offen einen solchen Präventivschlag gefordert hatten. Wie Robert Kennedy durchsickern ließ, hatte der Generalstab des Militärs dies noch Anfang der 1960er Jahre der Regierung Kennedy konkret einen Atomkrieg angetragen. Die eigenen Signale wie Reagans aggressive Rhetorik, das SDI-Programm und die überraschende Besetzung der Gewürzinsel Grenada im Oktober 1983, die u.a. 25 dort befindliche Kubaner das Leben kostete, hatte man in Washington und Langley falsch eingeschätzt. Im Kreml wurde Reagans aggressives Gerede vom Reich des Bösen, mit dem es keine Koexistenz geben könne, jedoch für bare Münze genommen. In Moskau war man bereit, einen erwarteten Vernichtungsschlag nicht nur zu kontern, sondern bei hinreichender Angriffswahrscheinlichkeit einem solchen ggf. durch einen eigenen Erstschlag zuvor zu kommen. (dazu  Able Archer 83 ). Der PFIAB-Bericht erwähnt Details, warum die Sowjets die westlichen Manöver als ernsthafte Angriffsvorbereitungen in Betracht zogen. In der bislang größten Übung Able Archer 83 wurden bei Funkstille 19.000 US-Soldaten nach Europa eingeflogen. Die Starts von B52-Bombern bezeichnete man im Funk dramatisierend als "Strikes" (Angriffe). Das Herbstmanöver war so realistisch, dass man an Bomber etwa Attrappen von Kernwaffen montierte. Mit echten Atombomben hingegen wurden zeitgleich die sowjetischen Bomber in Ostdeutschland und Polen bestückt, was dort zum ersten und einzigen Mal im Kalten Krieg geschah. (Die US Air Force hatte demgegenüber bis 1968 strategisch bewaffnete Bomber konstant in der Luft gehalten.)

Zu den Ursachen der Kriegsangst zählt der PFIAB-Bericht auch die fehlerhafte Einschätzung des Kremls, die neue Mittelstreckenrakete Pershing II habe tatsächlich eine Reichweite von 2.500 km und könne daher von Westdeutschland aus Moskau und andere besonders relevante Ziele erreichen.  Tatsächlich betrug der Radius der Waffe nur 1.800 km. Bislang hatten die ballistischen Langstreckenraketen östlichen Beobachtern (Stanislaw Petrow und das Geheimnis des roten Knopfs) eine halbe Stunde Zeit gelassen, um einen Fehlalarm als solchen zu erkennen  (Stanislaw Petrow – der Mann, der den Atomkrieg verhinderte) . Die Pershing II jedoch reduzierte die Vorwarnzeit auf fünf bis acht Minuten.

Vor 1980 hatte die Mobilmachung für einen Gegenschlag noch etwa vier Stunden in Anspruch genommen. Dieser Vorlauf war nötig, um auf den Fliegerhorsten die Bomber und auf den strategischen U-Booten die ballistischen Raketen startklar zu machen. In einem Zeitraum zwischen 1982 und 1985 gelang es, die Startvorbereitungen für die U-Boot-gestützten Raketen auf 20 Minuten zu verkürzen. Die Politik wollte nach zwei bis drei Minuten den Gegenschlag ausführen, was möglichst frühe Informationen für einen Spannungsfall erforderte. Ab 1980 etwa rüstete die Rote Armee daher an der Westgrenze die Bodenstreitkräfte mit atomarer Artillerie aus.

(Anmerkung G.J.: der NATO - Doppelbeschluss zur Stationierung von Pershing II  war also auf einer fiktiven Drohgebärde aufgebaut. Unklar ist z.B., ob dieser Umstand dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt bekannt war.)

VRYAN - (ВРЯН-внезапное ракетно-ядерное нападение ) das KGB-Computerprogramm zum Dritten Weltkrieg

Die Sorge vor einem Überraschungskrieg und der dann geringen Vorlaufzeit für einen Gegenschlag trieb das KGB 1981 zur Initiative RyAN (Nuklearraketenangriff-ракетно-ядерное нападение РЯН), die bis dahin größte Geheimdienst-Operation des Ostens überhaupt. Agenten hatten jedes Indiz für Kriegsvorbereitungen sofort zu melden. Wie nunmehr bekannt wurde, sammelte das KGB diese Informationen in einem Computerprogramm  VRYAN (überraschender Nuklearraketenangriff- ). Staatschef Juri Andropow hatte den Aufbau einer Spezialabteilung hierzu im KGB angeordnet. Bereits seit den 1970er Jahren bediente sich das KGB solcher Computermodelle zur Beurteilung der Gesamtlage. Die Sowjets investierten in VRYAN große Energie, die Anlage repräsentierte den Stand der sowjetischen Wissenschaft und Technik. Das Programm griff auf eine Datenbank von 40.000 Elementen wie politische, militärische und wirtschaftliche Faktoren zurück, die man im Zweiten Weltkrieg als für Entscheidungsträger wesentlich betrachtet hatte. Mit der Aktualisierung von VRYAN waren 200 Personen befasst, darunter angesehene Wirtschafts- und Militärexperten aus der Regierung. Auch die eigenen Daten über wirtschaftliches und militärisches Vermögen wurden in das System eingespeist. Aus einem teilgeschwärzten Satz im PFIAB-Bericht folgt, dass für den Fall des Unterschreitens von 40% das Land als nicht verteidigbar bewertet und ein nuklearer Präventivschlag empfohlen wurde. Im Abgleich zur Stärke der USA betrug der Wert 1984 nur 45%. Nach Einschätzung des PFIAB-Berichts hätten die Entscheidungsträger, die überwiegend als Ingenieure ausgebildet waren, derartigen Berechnungen einen hohen Stellenwert beigemessen.

Eine automatisierte Auswertung barg allerdings die Gefahr von Falschinformationen und Programmversagen. So bauten die USA damals an einem Tarnkappen-Bomber, was die Gefahr einer Fehlinterpretation von Radarsignaturen zu steigern schien. Die USA hörten vom VRYAN-Programm erstmals 1984 durch den von den Briten geführten Doppelagenten Oleg Gordijewski, dem man zunächst jedoch wenig Glauben schenkte.

"Weißglut"  ( http://www.heise.de/tp/artikel/46/46483/2.html

Völlig entgangen war auch dem Westen die Reaktion auf die abgebrochenen Abrüstungsverhandlungen nicht. So hatte Moskau Reagan mit Bezeichnungen wie "verrückt" und "kriminell" bedacht. Beim für Spionageabwehr zuständigen FBI fiel eine Anspannung der Bemühungen bzgl. militärischer Informationen auf, die Operation RYAN jedoch enttarnte das FBI nicht. Das Militär registrierte eine Zunahme sowjetischer Spionageflüge.

Ungeachtet dessen provozierten die USA durch sogenannte PsyOps die Luftabwehr der Sowjets, bei denen US-Flugzeuge auf sowjetischen Luftraum zuflogen und erst kurz vorher abdrehten. Damit verrieten die daraufhin aktivierten Zielradarstationen ihre Position. Das hierdurch aufgeheizte Klima führte im September 1983 zum tragischen Abschuss der Passagiermaschine KAL 007, die nach sowjetischer Darstellung den Luftraum verletzt hatte und für ein Spionageflugzeug gehalten wurde, das den Radarschatten der Maschine gekreuzt hatte. Nach diesem Vorfall war die politische Atmosphäre endgültig vergiftet. Die Nierenerkrankung des todgeweihten Staatschefs Andropow, der nach Einschätzung des PFIAB als einziger den Gegenschlag befehlen durfte, sorgte für zusätzliche Unwägbarkeiten. Ein Politbüro-Mitglied beschrieb die interne Situation während Able Archer wörtlich als "Weißglut".

Sicherheitsberater Robert McFarlane will Reagan wegen sowjetischer Befindlichkeiten bereits von der Teilnahme an Able Archer 83 abgebracht haben, wo andere Regierungschefs wie Thatcher und Kohl in einem verlagerten Kommandoleitstand die Übung politisch aufwerteten (Planspiel Atomkrieg (2013)). Unter Berufung auf McFarlane präsentierte das ZDF...ausgerechnet Brandstifter Reagan als Weltretter, der vor den konkreten Kriegsvorbereitungen des Ostens gewarnt worden sei und sich als besonnener Staatsmann im Ton gemäßigt habe.

Tatsächlich jedoch wurde damals in keinem Briefing des Präsidenten Able Archer oder eine konkrete sowjetische Kriegsangst erwähnt. Der PFIAB-Bericht hält die damalige Bewertung durch die Geheimdienste für unbrauchbar, um den Bedürfnissen des Präsidenten zu entsprechen. Erst am 18.11.1983, damit also eine Woche nach dem Ende von Able Archer 83 und der dann von Moskau am 11.11.1983 gegebenen Entwarnung an Militärs, hatte sich Reagan gegenüber seinem Außenminister George Shultz besorgt über eine sowjetische Kriegsparanoia geäußert. Am 05.11.1983 hatte Reagan den Film The Day After gesehen, der ihn sehr nachdenklich gemacht habe.

Un-Intelligence

Der PFIAB-Bericht von 1990 beklagt, dass die USA 1984 Gordijewskis über die Briten gelieferte Informationen etwa über RYAN und VRYAN wenig Glauben schenkten. Zwar hatten Beobachter im März 1984 berichtet, dass die sowjetischen Streitkräfte ihr Reaktionsvermögen verbessert hatten. Die Briten allerdings glaubten, es handele sich um eine sowjetische Propaganda- Kampagne, um den Westen wieder an den Verhandlungstisch zu bringen.

Zudem vermuteten manche Kreise in Washington einen Propagandatrick des Außenministeriums, um Reagan dazu zu bringen, sich im Ton zu mäßigen. Erst im Mai 1984 erkannte der US-Geheimdienst, dass es tatsächlich ein halbes Jahr zuvor die sowjetische Angst vor Able Archer gegeben haben musste. Wie ernst die Lage gewesen sein musste, erfuhr der Präsident erstmals im Juni 1984 durch den Bericht von CIA-Chef Casey, der u.a. auf Gordijewskis Informationen beruhte. Dem PFIAB-Bericht zufolge waren die USA über die Entscheidungsabläufe im Kreml kaum informiert und hätten die Brisanz der Situation verkannt.

Reagan soll auf den Casey-Bericht durchaus beunruhigt reagiert haben. Gemeinsam mit der britischen Regierung verzichteten die amerikanischen Freunde Mitte 1984 auch darauf, die NATO-Partner zu beunruhigen. Stattdessen überließen sie ihnen nur eine entschärfte Version des Casey-Berichts. Vor allem die Deutschen sollten nicht irritiert werden, weil damals gegen heftigen Widerstand in der Bevölkerung die Pershing-II-Raketen stationiert wurden.

Nachrüstung

Nach dem Tod von Staatschef J. Andropow im Februar 1984 war der ebenfalls gesundheitlich angeschlagene Konstantin Tschernenko nachgefolgt. Im Laufe des Jahres arbeitete die Rote Armee weiter an einer Verkürzung der Reaktionszeit und veranstaltete ein Seemanöver, an dem 148 Schiffe und bis zu 50 U-Boote beteiligt waren. Dabei wurden zeitgleich 23 strategische U-BootBeschreibung: Beschreibung: C:\Users\Georg\Documents\Meine Websites\ASPEKTE\Images_Home\images\46483_2.jpge mit ballistischen Raketen aktiviert, die bis dahin umfangreichste Mobilmachung in diesem Bereich. Insgesamt wurden 33 Raketen gestartet. Die Luftwaffe übte mit 80 Bombern an einem Nuklearangriff.

Soweit die US-Auswerter inzwischen erhöhte Militärbewegungen registrierten, bestritten 1984 die Analysten eine besondere Kriegsangst der Sowjets. Der PFIAB-Bericht sah auch Defizite bei der Kompetenz der Warnungs-Spezialisten, welche die Sowjetunion nicht ausreichend kannten.

Während sich die Sowjets noch vor allem in der ersten Hälfte des Jahres 1984 auf einen Überraschungsangriff vorbereiteten, beurteilte man im Kreml die Lage schließlich entspannter. Auf Tschernenkos Tod im März 1985 folgte Michail Gorbatschow, der die Abrüstung vorantrieb und damit die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen verminderte.

einer drohenden Enttarnung in den Westen ausgeschleust wurde, verschafften sich die Geheimen in Washington ein genaueres Bild der Krise von 1983. Überläufer Gordijewski wurde erstmals 1986 der Öffentlichkeit präsentiert und 1987 sogar als Held von Reagan im Weißen Haus empfangen. 1987 schließlich beurteilten die US-Analysten die von Gordijewski berichtete Existenz des VRYAN-Programms als wahrscheinlich und gestanden zu, dass dieses zur Paranoia ab 1981 beigetragen habe.

 

"TOP SECRET UMBRA GAMMA WNINTEL NOFORN NOCONTRACT ORCON" 

1988 erhielt der US-Geheimdienst aus einer bis heute geschwärzten Quelle belastbare Details für die sowjetische Kriegsangst von 1983. Dies weckte das Interesse des Direktors des Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency Lieutenant General Leonard Perroot. Er selbst hatte als Air Force-Geheimdienstler bei Able Arche 83 in Europa leitend mitgewirkt. Obwohl er durchaus Bewegung im sowjetischen Militär beobachtete, hatte Perroot damals jedoch aus einem Bauchgefühl nicht den echten Alarmstatus erhöht und damit ein möglicherweise fatales Signal und denkbare Kettenreaktionen vermieden.

Noch immer war das Wissen um die sowjetische Kriegsangst wegen Able Archer 83 wegen der Geheimhaltung und den unterschiedlichen Zuständigkeiten nur wenigen bekannt. Bevor Perroot 1989 in den Ruhestand ging, sandte er einen Brandbrief an Empfänger mit entsprechender Clearance und kommunizierte seine Beunruhigung über den Umgang mit den damaligen Vorgängen. Dies provozierte diverse Antworten, in denen die Existenz der damaligen Kriegsangst unterschiedlich bewertetet wurde. Das Herunterspielen der Krise empfand das President's Foreign Intelligence Advisory Board ebenfalls als verstörend und kam zu anderen Schlüssen als die Verantwortlichen von 1984.

Die Existenz einer erhöhten Kriegsangst konnte man schon daraus ersehen, dass die Rote Armee, die bislang immer ihre Transporter für die Erntehilfe zur Verfügung gestellt hatte, dies wegen offenbar anderer Prioritäten 1983 sowie aus dem Anschub der Kriegsproduktion im Jahre 1984 verweigerte. Daher beauftragte das PFIAB 1990 eine Untersuchung, deren Ergebnis mit der Geheimhaltungsstufe "TOP SECRET UMBRA GAMMA WNINTEL NOFORN NOCONTRACT ORCON" versehen wurde. Der PFIAB-Bericht und die hieraus ziehbaren Lehren waren nur wenigen Lesern vorbehalten gewesen. Nunmehr ist die Studie vom Februar 1990 zur Beinahe-Katastrophe freigegeben.

Die Frage, welche von beiden Seiten unvernünftiger handelte, ist müßig. Dank besonnener Menschen wie Stanislaw Petrow, Rainer Rupp oder Leonard Perroot, die im richtigen Moment an der richtigen Stelle die Nerven bewahrten, fand der Dritte Weltkrieg nicht statt. Entgegen dem Koalitionsvertrag, in welchem dem damaligen Außenminister Guido Westerwelle der Abzug der auf deutschem Boden gelagerten Atombomben zugesagt wurde, werden diese derzeit im Gegenteil sogar modernisiert 80 Mal Hiroshima in der Eifel).