W Ruge

Aspekte einer neuen Geschichtsbetrachtung des 20. Jh.

Zum Schaffen von Prof. Wolfgang Ruge

Aspekte-70 Rechentechnik der DDR im ESER  

Aspekte einer neuen Geschichtsbetrachtung des 20. Jh. 

Aspekte einer neuen Geschichtsbetrachtung des 20 Jahrhunderts? Das mag verwundern, sogar unverständlich sein, denn diese Überschrift bezieht sich auf das Schaffen eines der bedeutendsten Historikers der DDR. Arbeiten zur Rolle Stalins und Lenins in der Geschichte des Sozialismus- derer existieren sehr viele, auch aus der Feder von Marxisten bzw. marxistischen Historikern. Das Besondere, ja Einzigartige der Bücher und Arbeiten von Prof. W. Ruge, seit 1933 als Jungkommunist in die UdSSR emigriert und nach einem extremen Leben unter dem Stalin- Terror seit Rückkehr/ Übersiedlung 1956 in die DDR bis seiner Emeritierung am Zentralinstitut für Geschichte der AdW der DDR tätig, ist das absolut umfassende Detailwissen zu den Werken von Marx und Engels, aber auch Lenins, Plechanows u.a. , die absolut glaubwürdige Authentizität seiner Erinnerungen aus seinem bewegendem schweren Leben als Kommunist in der UdSSR, gepaart mit seiner wissenschaftlichen Ehrlichkeit und parteilichen Detailtreue eines studierten Historikers zu den Wurzeln der Geschichte des Sozialismus. Aber auch die sehr umfangreichen Arbeiten zur deutschen Geschichte im Umfeld der Novemberrevolution , zu wichtigen historischen Persönlichkeiten sind einzigartig analytische und sprachlich faszinierende Werke. (siehe auch Kurzbiografie). Wolfgang Ruge überzeugt aber auch mit seinem unverschnörkelten und klaren Schreibstil, mit seinem schriftstellerischen Talent.

Es liegt mir fern, mit den nachfolgenden Betrachtungen auch nur annähernd Wertungen seines Schaffens abzugeben. Es geht mir allein darum festzustellen, dass seine Arbeiten für mich ganz persönlich viele Fragen nach dem WARUM beantworten oder behandeln. Fragen, die sich sicher hunderttausende ehrlich den humanistischen sozialen Idee des Sozialismus dessen Gründungsvätern Verbundene seit dem Zusammenbruch 1990 stellten und stellen. 

Während Prof. Ruge  in der Zeit bis ca.1989 vorwiegend zur deutschen Geschichte des 20. Jh. publizierte und die klassenmäßigen Wurzeln des Dilemmas der Machtergreifung Hitlers, Biografien bedeutender Personen der Weimarer Republik untersuchte, wandte er sich danach vor allem Publikationen zu den geschichtlichen Ursachen des Zusammenbruchs des Realsozialismus zu und unterstrich immer wieder, dass die gesellschaftlichen Grundmuster und Prozesse der DDR sich zweifelsohne in einer totalen Abhängigkeit von den Entwicklungen in der UdSSR vollzog, von 1945 bis 1990 (!). Sein Lebenslauf- eng mit der UdSSR und der Zeit des Stalinismus verknüpft- forderte geradezu eine Betrachtung der Geschichte Russlands und der Sowjetunion ab Beginn des 20. Jh. bis zur Wende . Mit seinen Analysen und Erkenntnissen zu historischen Zusammenhängen und Persönlichkeiten - auch weit zurückblickend in die Zeit nach Ende des ersten Weltkrieges, des Beginns des etablierten Antikommunismus und Russland- Hasses der Mächtigen aller westlichen Demokratien bis hin zum Ende der "Sackgasse [des Sozialismus] im Labyrinth der Geschichte"( ein Untertitel seines Buches über den Stalinismus) , bietet er auf die Frage nach den Ursachen des Untergangs des "Realsozialismus" überzeugende, parteiliche Antworten. Sein Lebensweg, der so massive Verbindungen zwischen der UdSSR und der DDR verkörpert, gibt ihm auch eine geradezu einzigartige Legitimation, die Zusammenhänge und Unterschiede zu analysieren, die zwischen UdSSR und DDR bestanden, ausgehend von der klaren These, dass die DDR ein Satellit im System des UdSSR- Real-Sozialismus war. Ohne einen engen Verbund mit der UdSSR war sie nicht existenzfähig, also konnte auch nach dem Systemkollaps der UdSSR keine Chance eines eigenständigen DDR-Weges bestehen!

Heute wird viel von der friedlichen Revolution 1989 gesprochen- ausgehend von vielen Aktionen von DDR- Bürgern zur Gestaltung eines neuen Sozialismus, ausgehend von den Rufen nach Gorbatschow. Nachdem klar wurde, dass die innenpolitische Stabilität der UdSSR bröckelte und die Führung der UdSSR bereit war, ihren Verbündeten DDR dem Drängen der BRD nach politischer Vereinigung zu opfern (genau in dieser kausalen Reihenefolge), veränderten sich dann die Rufe der Demonstranten zum Slogan "Wir sind ein Volk". Herr Gorbatschow und seine Chefideologen hatten die DDR aufgegeben, Herr Kohl nutzte diesen historischen Moment. Ironie der Geschichte: Der Zusammenbruch des Realsozialismus in der UdSSR war 1990 die eigentliche Grundlage der Vereinigung Deutschlands.

  Die Lektüre der Arbeiten und Bücher W. Ruges ist spannend, wissenschaftlich und detailreich, seine Aussagen sind vor allem ohne orthodoxe Ehrfurcht vor jahrzehntelangen ideologischen Versuchen, die Geschichte des Sozialismus einseitig positiv darzustellen bzw. die Lehren von Marx/Engels nach rein pragmatischen Gesichtspunkten, geboren aus der Situation Russlands zum Beginn des 20.Jahrhunderts, theoretisch "anzupassen", aber dabei wesentliche Grundpfeiler mit letztlich verhängnisvollen Ergebnissen zu ignorieren. Seine Vorträge, Artikel und  und Bücher gehen von den humanistischeren Idealen des Sozialismus - der  Akzeptanz und Euphorie breiter Massen aus-  und distanzieren sich vom dogmatischen Glauben an die Unfehlbarkeit der Original- Lehre von Marx und Engels für unsere Zeitepoche. Er lehnt aber genauso die Anerkennung des Stalinismus als einer sozialistischen Gesellschaftsform ab und stellt damit strategisch den Marxismus- wichtige Inhalte des dialektischen und historischen Materialismus- gegen den weltweit auf immer diskriminierten Realsozialismus sowjetischer Bauart. Gleichzeitig wendet er sich aber auch gegen jede Orthodoxie bei der Betrachtung des "Ur-Marxismus" als aktuelles Gesellschaftskonzept. Bis ins hohe Alter nahm er aktiv und engagiert an einer historisch korrekten Aufarbeitung der Geschichte des Sozialismus teil und leistete wertvolle Beiträge dazu.

Ein Großteil seiner Arbeiten zur Rolle Stalins und Lenins in der Geschichte des Sozialismus eröffnen neue Blicke auf dieses komplexe Thema und bieten wohl erstmalig eine akzeptable Analyse dieses Problemkreises - weder opportunistisch oder dogmatisch geprägt, und gleich gar nicht antikommunistisch. Wichtige Betrachtungen und Ergebnisse seiner Arbeiten zur Geschichte des Real- Sozialismus wurden leider - der Öffentlichkeitspolitik der DDR- Oberen und seinem dort nie ganz rehabilitierten Stigma eines "Ehemaligen" geschuldet- erst in der letzten Phase der DDR veröffentlicht. So konnten seine Warnungen und Schlussfolgerungen keinen Einfluss mehr auf die DDR- Politik haben. Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, dass unter den marxistischen Historikern W. Ruge der herausragende Kopf einer modernen Sozialismus- Analyse ist.

Es ist im Rahmen dieser WEB- Seite unmöglich und auch keineswegs Ziel, dem Leser die wichtigsten Erkenntnisse und Schlußfolgerungen Ruges im Überblick darzustellen. Dieser Beitrag soll das Werk und die Erkenntnisse Wolfgang Ruges in aller Bescheidenheit  würdigen, soll für die Besonderheit und das Gewicht des Werks von W. Ruge stehen. Vor allem sein Spätwerk (publiziert ab ca. 1989 ) betrachtet die Geschichte des "Realsozialismus" hauptsächlich ausgehend vom Kriterium der humanistischen Ziele (oder besser Ideale) des Aufbaus des Sozialismus als einer freien und sozial gerechten Ordnung für die Menschen, für die große Mehrheit der Gesellschaft und misst das Handeln der Führungsnomenklatura und deren Spitzen ( Lenin, Stalin ) daran. In diesem Kontext kommt er, m.E. als eine Hauptaussage seiner Arbeiten zur Schlussfolgerung, dass historische Gesetzmäßigkeiten bzw. Gesetze der Entwicklung von Klassengesellschaften keineswegs Epochen- neutral und dogmatisch gelten, sondern einer dynamischen klugen Weiterentwicklung bzw. Erneuerung bedürfen (betr. etwa Rolle der Arbeiterklasse, Verelendung des Proletariats als Triebkraft von Revolutionen) .

Aber auch eine willkürliche subjektive Neudefinition von "Gesetzmäßigkeiten", wie von Lenin für Russland zunächst theoretisch entwickelt, dann im Strudel der Widersprüche des Lebens der Gesellschaft oft verändert, verfälscht und pragmatisch dem Machterhalt untergeordnet ("Zurechtbiegen" der Theorie unter den Erfordernisse des Machterhaltes") und später von Stalin menschenverachtend weitergeführt und missbraucht, wurde von ihm tiefgründig analysiert. Die Praxis eines unvorstellbaren Terrors durfte auch unter noch so widrigen Umständen niemals dazu führen, dass große Teile der sowjetischen Bevölkerung vernichtet und letztlich auch die intellektuellen Eliten  der Gesellschaft  durch Mord, Hunger und Sklavenarbeit katastrophal  dezimiert wurden, was jegliches unabhängiges und progressives Gedankengut unterdrückte , den Realsozialismus aushöhlte und damit wesentliche Ursachen für den Zusammenbruch des Realsozialismus und zur weltweiten Diskriminierung der Ideen von Marx und Engels führte - der Diskriminierungr einer neuen Gesellschaftsordnung mit Wohlstand und Gerechtigkeit für alle Menschen!

Gleichwohl - es ist sicher wichtig darauf zu verweisen, welche gewaltige positive Rolle  die Oktoberrevolution für den Verlauf der Geschichte des "kurzen 20. Jahrhunderst " spielte. Daher sei ausdrücklich auf die Anmerkung am Ende dieses Artikels verwiesen , ohne die das Werk Ruges sicher aus seinem Kontext gerissen wäre.

Zu einzelnen Arbeiten bzw. Büchern sollen nachfolgend Anmerkungen erfolgen:

"Gelobtes Land- Meine Jahre in Stalins Sowjetunion"

Wolfgang Ruge hat mit seiner persönlichen Geschichte und zugleich Familiengeschichte von 1933 bis April 1956 hier ein sehr ehrliches und informierendes Buch vorgelegt (3. Auflage 2012) , zu einer Zeit, wo diese Offenheit politisch möglich wurde und zum geschichtlichen Verständnis großer Teile der Leser wesentlich beitrug. Begonnen hatte er seine Arbeiten daran bereits 1981... . Spannend auch für mich, wo ich doch in der Zeit nicht wesentlich nach dem XX. Parteitag der KPdSU und Chruschtschows Geheimrede erstmals in die Sowjetunion kam und dort ( mit Unterbrechungen) weit mehr als ein Jahrzehnt die Entwicklung des Landes hautnah miterlebte (und weiter verfolge). Spannend, weil der Vergleich des Gelesenen mit den persönlichen Erfahrungen das hohe Maß der Detailtreue und Nähe Wolfgang Ruges zum Leben in der UdSSR immer wieder deutlich machte! Aber gleichzeitig ist dieses Buch angesichts der Entbehrungen und Qualen seines Autors erstaunlich "nüchtern", ohne pauschale Verdammung oder antisowjetische Angriffe, keineswegs ein Buch im Namen des Antikommunismus.

W.Ruges Buch "Gelobtes Land" ist kein Werk zur wissenschaftlichen Analyse der Geschichte der UdSSR, es ist vielmehr eine sehr ergreifende Geschichte eines Menschen und seiner Familie mit epochalen Hintergrund.  Dieses Buch war schließlich für mich der Schlüssel, sich ausführlich mit seinen Arbeiten nach 1956 und insbesondere nach 1990 zu befassen, ein sehr wertvoller Hinweise für weitere Lektüre.

"Stalinismus -Eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte"

"Wahrhaftigkeit will .. die ganze Wahrheit, denn die Wahrheit ist immer das Ganze, nicht abgewogen, nicht abgemessen, .. nicht in irgendeinem Dienste stehend, der sie nach Belieben gebraucht und von dafür Befugten verwalten lässt.., nicht Strategien untergeordnet ,.. nicht modifiziert nach Erfordernissen ,.  die das Volk als schlechthin Unmündige ansehen... " Diese Worte von Führmann stellt W. Ruge diesem 1991 im Deutschen Verlag der Wissenschaften erschienenen Buch voran. 

Ein relativ kleines Buch mit schwerwiegendem Inhalt, mit einer logisch strikten Gliederung der Zusammenhänge: von der Geschichte Russlands aus dem 19.Jh., den ersten strukturellen Ansätze der revolutionären Partei, dem Platz der Gewalt in den Visionen Lenins , der Rolle Lenins in der Zeit nach 1917 und den Machtkämpfen in der Parteispitze bis zu ausführlichen Betrachtungen des "Faktors" Stalin und der gewaltigen Deformation der Land- Wirtschaft ( man könnte auch sagen der Agrar-Wirtschaft), scheinbar zugunsten des Aufbaus einer mächtigen Industrie, jedoch wesentlich auf den Knochen von Millionen Arbeitssklaven, mit der Arroganz , Millionen , vorrangig ukrainischen Bauern,  dem Hungertod zu opfern. Eine umfangreiche Betrachtung zum Platz des Stalinismus in der Geschichte schließt das Buch- nicht ohne direkte Beziehungen zu den Erscheinungen und Praktiken zu ziehen, die letztlich das System des Realsozialismus zu einem wettbewerbs- unfähigen System werden zu lassen und weiterreichende  Schlussfolgerung zur Gültigkeit bzw. der Fragwürdigkeit historischer Entwicklungsgesetze in Abhängigkeit von deren Betrachtungszeitraum zu ziehen.

Dieser Auszug aus dem ersten Abschnitt mag den Leser anregen , dieses nur noch schwer erhältliche Werk zu suchen. 

Der Stalinismus war kein Sozialismus im Sinne der Visionen und Ideale, wie ihn Millionen von Menschen, aufbauend auf den Werken des Marxismus, als ihre Zukunft erhofften. Der Stalinismus war der entscheidende Faktor, der die Lebenskraft der Marschen Ideen und eine mögliche Zukunftshoffnung auf eine humanistische Zukunft ( etwa unter Führung einer intelligenten und humanistisch orientierten Intelligenzia) mit dem Krebsgeschwür des menschenverachtenden Terrors und der Willkür eines Diktators infizierte und ein Land mit einem riesigen Potential talentierter Menschen und Ressourcen, sowie Millionen Verbündete und Freunde in der Welt in eine Katastrophe führte. Und es sei angefügt- da man oft liest, welche positive Rolle Stalin bei der Niederschlagung des Hitlerfaschismus doch spielte- der historische Sieg über den Hitlerfaschismus wurde hauptsächlich vom sowjetischen Volk als großer "vaterländischer" Krieg errungen- nicht wegen der Rolle Stalins, sondern trotz dessen Verbrechen! Als Kampf, nicht vordergründig zum Schutze des sozialistischen Staates, sondern zur Vertreibung der Okkupanten von der geliebten Heimat- Erde. Und , das hebt Wolfgang Ruge mit besonderer Bitternis immer wieder hervor, trotz des unglaublichen Vernichtungs-Terrors, den Stalin mit seinen vielfältigen Handlangern insbesondere gegen den intelligentesten, leistungsfähigsten und der kommunistischen Idee besonders ergebenen Teil der sowjetischen Gesellschaft verübte.

"Lenin - Vorgänger Stalins"

W.I. Lenin – ein Fanatiker und Putschist, ein Visionär und Held? Wolfgang Ruge geht in dieser außergewöhnlichen politischen Biografie dem Phänomen Lenin nach, zeigt ihn in seiner Widersprüchlichkeit und trifft damit nicht nur die persönliche Tragik des Revolutionärs, sondern die Tragik der sozialen Revolution überhaupt.
Ruge zeigt, wie ein ursprünglich auf die Befreiung der arbeitenden Klassen gerichteter Vorsatz unter konkreten historischen Bedingungen immer unkenntlicher wird und schließlich in eine unvorstellbar opferreiche, repressive Herrschaftspraxis mündet. Ruge zieht eine Bilanz auch seiner eigenen Lebensträume und Irrwege – mit beinahe zerstörerischer Rücksichtslosigkeit. Ein Alterswerk, in dem es ihm gelingt, die Spannung und Wucht des Geschichtsprozesses auf mitunter beklemmende Weise zu entfesseln.

Wie schon in seinen Vorträgen vor dem Jenaer Forum für Bildung und Wissenschaft 1997 (Schriftenreihe Nr. 29)  "Lenin im Rückblick, verschlissene Ideen -Befestigte Macht " deckt er mit scharfer Analytik und historischer Präzision den Weg Lenins von einem blendendem Theoretiker und visionärem Vorkämpfer für das Wohl der breiten Masse auf marxistischer Basis, dem Architekten der Partei der Bolschewiki zu einem pragmatischen skrupellosen Machtpolitiker an der Spitze der Revolution in den Anfangsjahren der Sowjetmacht auf. Neben der zweifellos herausragenden Qualität der Kombination als Theoretiker und Organisator ("... ohne Lenin hätte es die Oktoberrevolution nicht gegeben.. " ) zeigt W. Ruge nicht nur, mit welcher Flexibilität und Widersprüchlichkeit Lenin die politische und wirtschaftliche Balance des jungen Staates zu steuern versuchte , sondern auch , dass die Bolschewiki und Lenin persönlich über keinerlei Konzeption (*), einen Bauplan der neuen Gesellschaft in ihrer komplexen Vielfalt verfügten ( den ja die Klassiker aus gutem Grunde auch nicht geliefert hatten). Mit seiner Doktrin zur Bildung einer Gruppe der Berufsrevolutionäre( die später zur Nomenklatura des Landes mutierte), mit seinen offenen wiederholten Aufforderungen zum Massenterror gegen tausende Kirchenvertreter, Kulaken , "Reiche und Blutsauger",  mit dem Auftrag zum Aufbau der "Tscheka" ( 6 Wochen nach der Oktoberrevolution ) usw. legte er bereits den Grundstein für einen entarteten Terror- dessen massive Entfaltung dann unter Stalin erfolgte. Die "Niederhaltung der Ausbeuter" im blutigen Bürgerkrieg 1918 bis 1922 führte zu einer entsetzlichen Brutalität auf beiden Seiten der Fronten, zum Tode von ca. 15 Mio Menschen, letztlich zum Verlust der Bauernschaft als Verbündeter der Bolschewiki und der verhängnisvollen Etablierung der Einparteien- Diktatur ohne jegliche defacto Gewaltenteilung. Viele weitere Fakten und Zusammenhänge, Antworten und Schlussfolgerungen findet der Leser. Auf eine besondere Argumentation  sei noch verwiesen - die "Lehre" des Leninismus von schwächsten Kettenglied als Startpunkt der sozialistischen Revolution war aus Ruges Sicht nicht nur eine willkürliche Transformation bzw. bewusste Verdrehung der Marxschen Lehre von der Revolution zunächst in Ländern mit dem höchstentwickelten Kapitalismus, sie war in ihrer Folge eine der Haupt-Ursachen, dass selbst unter unsäglichen Anstrengungen, Entbehrungen und Opfern die sowjetische Wirtschaft (vor allem unter Stalin) zwar eine gewaltige Leistungsentwicklung zeigte, aber das Lebensniveau der Menschen stets gravierend hinter dem der entwickelten kapitalistischen Staaten zurückblieb und letztlich der Glaube der Menschen an ihre sozialistische Zukunft und der "Realsozialismus" zerbrach!

(*)Wenn man zum analogen Thema im Kapitel "Die Weltrevolution" bei Eric Hobsbawm -"Das Zeitalter der Extreme"-nachliest, so findet man einen distanzierteren Blick aus der "Vogelperspektive". Da ist  zunächst die Feststellung, dass im Zuge der Zerrüttung der Staaten Europas im Ergebnis des mörderischen 1.Weltkrieges in Russland eine extrem günstige Konstellation für eine sozialistische Revolution unter Führung der Bolschewiki bestand und darüberhinaus in vielen Ländern Europas revolutionäre Situationen heranreiften und zum Ausbruch kamen, sodass das Gebot der Situation die Bolschewiki eine einmalige Chance erkannten und umsetzten. Und da ist auch die Meinung, dass die russische gesellschaftliche Realität und der Zwang des Machterhaltes durch die Bolschewiki von den Visionen Lenins  Schritt für Schritt abdriftete und Lenin unter den extremen Lasten der täglichen Regierungsarbeit und pragmatischen politischen Führung unmöglich in der Lage war, eine längerfristige Konzeption des sozialistischen Aufbaus zu entwerfen, wo doch bereits die tägliche Realität oft nicht seinen früheren Thesen und Postulaten folgte.  Allerdings, aus heutiger Sicht und mit dem Blick W.Ruges, mutet die Sicht von E. Hobsbawm wohl eher als eine Art Verteidigung der Leistungen Lenins an, die ganz zweifelsohne dessen historischer Leistung und Genialität zustehen.

Es bleibt u.E. dahingestellt, ob die Ideale der Oktoberrevolution, der Beginn einer neuen historischen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, ohne die entsetzliche antihumanistische Entartung des Terrors und der Vernichtung von Millionen Leistungsträgern in der UdSSR eine echte historische Chance zu Beginn des 20. Jh. hatte, also der Chance auf eine ebenso rasante Entwicklung der Produktivkräfte, mit dem Weg in die technische Revolution unter breiter gesellschaftlicher Kontrolle und auch der Möglichkeit der Nutzung einer tiefen internationalen Arbeitsteilung. Auch dann, als die ursprünglichen Ansätze und Hoffnungen auf eine "Weltrevolution" zerfielen. Eine Abkehr von der These und der unterstützenden Praxis der "Weltrevolution" wäre zweifelsohne eine fundamentale Kurswende und Aktualisierung der Lehren des Marxismus gewesen. Die erbitterten Klassenauseinandersetzungen, der Kampf gegen das neue Gesellschaftssystem durch die kapitalistische Welt ( Stichworte: Interventionen und Entente, kalter Krieg, Wettrüsten , Embargo ) wären dann schon eher in das Konzept der friedlichen Koexistenz übergegangen (?). W. Ruge stellt diese rein theoretische Frage nicht, sie ist ohnehin rein spekulativ. Die 1990 erst bevorstehende zweite Sufe der technologischen Revolution bei Mikroeklektronik, Biotechnologie, Humangenetik usw. sowie der globalen Arbeitsteilung konnte W. Ruge ohnehin nur in ersten Anzeichen in seine Analysen einbeziehen. 

"Beharren, kapitulieren oder umdenken"; Gesammelte Schriften 1989- 1999, ISBN 978-3-89793-149-7, www.edition-ost.de

Dieser Sammelband ist aus der Sicht unseres Jahrzehnts wohl das spektakulärste Werk Prof. Wolfgang Ruges , aus Sicht dessen wichtigsten Forschungsergebnissen zur Sozialismus-Geschichte. Dem Herausgeber Friedrich Martin Balzer (www.friedrich-martin-balzer.de) ist es zu danken, dass diese herausragende Sammlung der Schriften Wolfgang Ruges für den o.g. Zeitabschnitt verfügbar ist . Der einführende Artikel Balzers , sowie der von J. A. Hösler, Lehrbeuaftragter an der Uni Marburg , verfasste Überblicksbeitrag würdigen W.Ruges Werk als bedeutenden "Historiker in extremen Zeiten"  und seinen "Beitrag zur Geschichtsschreibung der Sowjetunion" in ausführlicher Form.

Die Arbeiten Prof.Wolfgang Ruges in den bewegenden Zeiten des Umbruchs 1889- 1999 bieten in weitgehend chronologischer Folge umfangreiche Geschichtsdetails, aber vor allem viele Gedanken zur (Nicht-)Aktualität und Anwendung der Lehren von Marx und Engels in der Zeit des beginnenden 21. Jahrhunderts, in der wesentliche Grundlagen des Marxismus nach gründlicher Analyse der gesellschaftlichen Realität heute neu bewertet werden müssen. Nur Stichworte seien genannt : wissenschaftlich- technische Revoltion mit extremer Steigerung der Produktivität, daraus Möglichkeiten der besseren sozialen Stellung der Arbeiterklasse und  erfoderliche neue Betrachtung der These der Verarmung des Proletariats; deren Anteil und Rolle in den heutigen Industrienationen; Globalisierung und Widersprüche zur sog. "dritten Welt" u.a.. Die Gefährdung der Existenz der Menschheit durch die unvorstellbare Anhäufung von Vernichtungswaffen verwies die Thesen zur "Weltrevolution" bereits in den Zeiten des kalten Krieges in den Bereich des Wahnsinns..... , worauf Ruge in vielen seiner Schriften mit zunehmender Besorgnis verwies und diese Thematik über alle Illusionen von der Überlegenheit des Sozialismus stellte.

Wichtiger Punkt aus W. Ruges Erkenntnissen: die Analysen von Marx und Engels enthalten den gravierenden systematischen Fehler, dass sie die Zukunft, die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung ausgehend von der Geschichte der vergangenen Unterdrückergesellschaften als eine lineare Fortsetzung in die Zukunft betrachteten. Sie konnten bei all ihrer Genialität die exponentielle, dynamische Entwicklung von Wissenschaft und Technologie des 20.Jh., die Entwicklung des Weltfinanzsystems, die Schaffung großer globaler Märkte , aber auch die sozialen Adaptionen des Kapitalismus nicht erkennen, selbst für Lenin waren solche Prognosen noch hinter dem Sichthorizont eines Juristen verborgen. Lenin ist nach Ruges Erkenntnissen wohl vorrangig vorzuwerfen, dass er den gesellschaftlichen Stand der Entwicklung Russlands ("schwächstes Glied" ) im Widerspruch zum Marxismus pragmatisch negierte, die objektiven Grundlehren des Marxismus mit seinen Theorien mit großer Willkür "zurechtbog" und seine Politik willkürlich an der Machtgewinnung und Machterhaltung der Partei der Bolschewiki orientierte, mit Terror und Bürgerkrieg mit ca. 15 Mio Toten. Das Fehlen einer innerparteilichen Demokratie wurde ersetzt durch den Machtapparat einer kleinen Gruppe von (ehemaligen) Berufsrevolutionären , die enormen Widersprüche politischer und materielle Art bei der Umsetzung der Visionen Lenins durch immer neue Kompromisse ersetzt , die Realität der Gesellschaft zunehmend missachtend.Auch W. Ruge vertritt den Standpunkt, dass viele strukturellen und politisch-organisatorischen Grundlagen von Lenin geschaffen wurden , die später von Stalin in extremer Weise genutzt und zur Perversion ausgeweitet wurden.

Als Resümee wäre sicher eine Erkenntnis wichtig: Historische Gesetzmäßigkeiten bzw. Gesetze der Entwicklung von (Klassen-) Gesellschaften sind keineswegs Epochen- neutral und können nicht dogmatisch aus der Vergangenheit interpoliert abgeleitet werden. Für die Gestaltung einer sozial gerechteren Welt im globalen Maßstab ist eine kluge Weiterentwicklung bzw. dynamische Erneuerung der Lehren aus der Geschichte unabdingbar, gepaart mit dem ethisch sauberen, humanen Handeln der Akteure ! Dabei wird der wachsende soziale Widerspruch "arm-reich" eine treibende Kraft bleiben. Die Rolle der Arbeiterklasse in den  führenden Staaten (im Sinne von Marx) wird dabei sicher von einer gesellschaftlich breiteren Schicht der weltweit Ausgebeuteten abgelöst, deren einheitliches organisiertes Handeln von gravierenden Widersprüchen ihrer aktuellen Interessen überlagert wird und nicht real vorstellbar ist.

Historiker sind sich darin einig , dass derartige Entwicklungen sich jeder ernstzunehmenden Prognose entziehen!  Und : es wäre verfehlt, hier eine ca. 600 Druckseiten umfassende und so vielschichtige Sammlung von Gedanken und Erkenntnissen auch nur annähernd zu umreisen.

Eine Anmerkung oder Ergänzung:

Der Altmeister der marxistischen Geschichtsbetrachtung dieses Jahrhunderts Eric Hobsbawm machte in seinem Buch "Das Zeitalter der Extreme" ( z.B. 12.Auflage 2014; D. Taschenbuchverlag ISBN 978-3-423-30657-7) eine wichtige Feststellung zum Platz der Oktoberrevolution in der Geschichte des "Kurzen 20. Jahrhunderts"  , welche bei allen o.a. Negativaspekten doch sehr wesentlich für die Wertung dieses Geschichtsabschnittes und der vielen großartigen Leistungen und Erfolge der Menschen in der real-sozialistischen Gesellschaftsformation sind:

"… Nur die temporäre und bizarre Allianz von liberalem Kapitalismus und Kommunismus, zur Selbstverteidigung gegen den faschistischen Herausforderer, rettete die Demokratie; denn Hitlers Deutschland wurde und konnte im wesentlichen nur durch die Rote Armee besiegt werden. In vielerlei Hinsicht war diese Periode der kapitalistisch- kommunistischen Allianz gegen den Faschismus - vor allem in den dreißiger und vierziger Jahren - der Dreh- und Angelpunkt und das entscheidende Moment in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber in vielerlei Hinsicht war dieses Moment auch ein historisches Paradox in den Beziehungen zwischen Kapitalismus und Kommunismus, die fast während des gesamten Jahrhunderts (außer in der kurzen Zeitspanne des Antifaschismus) in einem unversöhnlichen Antagonismus eingebettet waren. Der Sieg der Sowjetunion über Hitler war die Leistung jenes Regimes, das mit der Oktoberrevolution etabliert worden war .... Ohne die Oktoberrevolution bestünde die Welt (außerhalb der USA) heute wahrscheinlich eher aus einer Reihe von autoritären und faschistischen Varianten als aus einem Ensemble unterschiedlicher liberaler, parlamentarischer Demokratien. Eine der Ironien dieses denkwürdigen Jahrhunderts ist, daß das dauerhafteste Resultat der Oktoberrevolution - deren Ziel es ja war, den Kapitalismus weltweit umzustürzen — ausgerechnet die Rettung ihres Antagonisten im Krieg wie im Frieden war: Sie spornte ihn an (indem sie angst machte), sich nach dem Zweiten Weltkrieg selbst zu reformieren; und sie machte wirtschaftliche Planung in einer Weise gemeinverständlich, daß schließlich sogar einige ihrer Aspekte zum Prozedere dieser Reform gehören sollten. Doch sogar nachdem der liberale Kapitalismus gerade noch die dreifache Herausforderung von Zusammenbruch (dh. die Weltwirtschaftskrise 1929), Faschismus und Krieg überstanden hatte, schien er noch immer einem weltweiten Vormarsch der Revolution ausgesetzt, die sich nun um die aus dem Zweiten Weltkrieg als Supermacht hervorgegangene Sowjetunion sammeln konnte.Im Rückblick können wir nun erkennen, daß die globale sozialistische Herausforderung des Kapitalismus auf der Schwäche ihres Gegners beruhte. Ohne den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts im Zeitalter der Katastrophe hätte es keine Oktoberrevolution und keine Sowjetunion gegeben. "

Das Verdienst Lenins war es , diesen Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts für den Sieg der Oktoberrevolution in seinem Heimatland zu nutzen. Die politische und wirtschaftliche Praxis der nächsten Jahre und Jahrzehnte zeigte uns allerdings, dass die Kräfte des Realsozialismus und dessen Methoden und Vorgehen nicht adäquad dem Potential und den Entwicklungsmöglichkeiten der modernen kapitalistischen Gesellschaft waren.

W. Ruge Arbeiten bieten zum Warum dieses Dillemas viele überzeugende Argumente. Wie so oft im Leben der Menschen zertören Fehler, Dogmatismus und geistige Beschränktheit, Habgier und Machtgelüste der Oberen das Lebenswerk von Millionen und nicht selten deren Leben!

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