Chruschtschow wird demontiert

(1956-1959, 62-65 Jahre)

 

Wenige Monate nach seiner Kritik an Stalin war Chruschtschow in Schwierigkeiten geraten. In der polnischen Stadt Posen kam es im Juni 1956 zu Protesten, die von einer Fabrik mit dem passenden Namen »Stalin-Werke« ausgingen. Bei diesem Aufstand wurden mehr als 50 Ar­beiter getötet. Wladyslaw Gomulka, ein ehemaliger Parteichef, der unter Stalin im Gefängnis gesessen hatte, kehrte an die Macht zurück und trat für von größerer Unabhängigkeit bestimmte Beziehungen zu Moskau ein. Die Russen berichteten Mao am 19. Oktober, dass in Polen eine massiv antisowjetische Stimmung herrsche und sie die Anwendung von Gewalt in Erwägung zögen, um die Kontrolle über das Land zu behalten.1

Mao erkannte darin einen idealen Eröffnungszug für ein systematisches Untergraben von Chruschtschows Autorität: Er konnte sich als Fürsprecher der polnischen Sache und als Gegner einer »sowjetischen Militärin­tervention« präsentieren. Ein solcher Auftritt könnte allerdings zu einem Zusammenstoß mit Chruschtschow führen, sinnierte Mao, der im Bett lie­gend das Für und Wider in dieser Frage lange und sorgfältig gegeneinan­der abwog. Am Nachmittag des 20. Oktober berief er das Politbüro ein Niemand riet zur Vorsicht.2 Mao bestellte den russischen Botschafter Judin ein, den er im Frotteemantel empfing, und teilte ihm mit: Wenn die sowjetische Armee in Polen Gewalt anwendet, werden wir euch öffentlich verurteilen.3 Er bat Judin, Chruschtschow sofort anzurufen. Mittlern hatte Mao den Eindruck gewonnen, Chruschtschow sei so etwas  »Stümper«, der »ein Unheil nach dem anderen anrichtete«.4 Die Bewunderung, die er für Chruschtschow empfunden hatte, als der Kremlchef Stalin vom Sockel stieß, schwand rasch und wich der Gewissheit, Chruschtschows Verwundbarkeit zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen konnte.

Noch bevor Judins Nachricht im Kreml eintraf, hatte Chruschtschow bereits entschieden, keine Truppen einzusetzen. Am 21. Oktober lud er die KPC und vier weitere regierende kommunistische Parteien nach Moskau ein, um dort gemeinsam die Krise zu erörtern. Mao entsandte Liu Shao- hi der Anweisung hatte, Russland für seinen »Großmachtchauvinismus« und das laute Nachdenken über eine »Militärintervention« zu tadeln. In Moskau schlug Liu vor, die sowjetische Führung möge »Selbstkritik« üben.5 Maos Ziel war, Chruschtschow in seiner Eigenschaft als Führer des kommunistischen Lagers zurechtzustutzen und zugleich seinen eigenen Führungsanspruch geltend zu machen, etwas, wovon er seit Stalins Tod geträumt hatte.6 Jetzt war die Gelegenheit dazu gekommen.

In diesem kritischen Augenblick explodierte ein weiterer Satellit Moskaus: Ungarn. Der ungarische Aufstand sollte zur bis dahin größten Krise im kommunistischen Teil der Welt werden. Dies war ein Versuch, nicht nur mehr Unabhängigkeit von Moskau zu gewinnen (worum es in Polen gegangen war), sondern das kommunistische Regime zu stürzen und sich vollständig aus dem Block zu lösen. Am 29. Oktober beschlossen die Rus­sen, ihre Truppen aus Ungarn abzuziehen, und informierten Peking. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Mao auf einen Rückzug der sowjetischen Streitkräfte aus Osteuropa gedrängt, doch jetzt erkannte er, dass das Regime in Ungarn zusammenbrechen würde, wenn die Russen das Feld räumten.7 Also empfahl er am darauf folgenden Tag nachdrücklich, die sowjetische Armee in Ungarn zu belassen und den Aufstand niederzuschlagen.8 Osteuropa unter kommunistischer Kontrolle zu halten war jetzt wichtiger als die Schwächung Chruschtschows. Maos Streben nach der Führungsrolle im kommunistischen Lager würde die Grundlage fehlen, wenn dieses Lager zu existieren aufhörte.

Am 1. November revidierte Moskau seinen Kurs. Die russische Armee blieb in Ungarn und schlug den Aufstand unter großem Blutvergießen nieder. Die Erkenntnis, dass russische Truppen unentbehrlich waren, wenn die europäischen Satelliten unter kommunistischer Kontrolle gehalten werden sollten, war ein Rückschlag für Maos Pläne, diese Länder den Klauen Moskaus zu entwinden. Doch er gab nicht auf. Als die russischen Panzer am 4. November nach Budapest hineinrollten, sagte er vor dem Pollitbüro: Die Ungarn müssen eine neue Methode entwickeln, ihr Land zu regieren, und wir müssen ihnen dabei helfen.9 Was er damit meinte, war: Die osteuropäischen Regimes sollten seine Herrschaftsmethoden übernehmen und selbst als brutale Unterdrücker auftreten. Dann wären sie nicht mehr auf russische Panzer angewiesen. Bereits 1954 hatte Mao seine Gedanken zur  Staatskunst an den Mann weitergegeben, der zu Beginn des Aufstands dann Ungarns Ministerpräsident sein sollte: Andräs Hegedüs. Er sagte uns, Mao habe ihn gedrängt, die Armee unter uneingeschränkter Kontrolle zu halten. Es habe nur noch gefehlt, dass er ihm das ungarische Regime solle seine Herrschaft durch gezieltes Töten unangreifbar machen.10 Als Mao erfuhr, dass der jugoslawische Diktator Titow seinen liberalen Opponenten Milovan Djilas hatte verhaften lassen hatte.  Nach dem Bericht seines Armeechefs Peng hatte er »solche Freude, dass sein Gesicht aufleuchtete«.11 Mao verbreitete in Gesprächen mit osteuropäisch Kommunisten weiterhin sein stalinistisches Gedankengut und hoffte dabei, sie würden sein Modell der Unterdrückung übernehmen und seine Führerschaft anerkennen.

Im Januar 1957 entsandte Mao Chou En-lai nach Polen, der dort versuchen sollte, Gomulka auf seine Seite zu ziehen. »Die Antwort auf alle Fragen besteht darin«, sagte Chou zu Gomulka, dass »die Kräfte auf dem rechten Flügel und die versteckten Konterrevolutionäre attackiert werden, ... wobei man sich jeweils nur eine Gruppe zur gleichen Zeit vornimmt.«12 Dieser Rat fand bei Gomulka, der einige Jahre in Stalins Gefängnissen verbracht hatte, keinen Anklang. ... Mao kam nicht sehr weit, denn Gomulka hatte nicht vor, zum Tyrannen zu werden.

Mao hoffte, dass er die Polen dazu bringen konnte, ihn als Führer des kommunistischen Lagers vorzuschlagen. Der gewundene Weg, auf dem er dieses Ziel anstrebte, bestand aus wiederholten Mitteilungen an Gomulkas Adresse, dass das kommunistische Lager »von der Sowjetunion angeführt« werden müsse.15 Indem Mao erklärte, das Lager müsse eine Führung haben, versuchte er zugleich die Frage aufzuwerfen, wer dies Anführer sein sollte, und er hoffte, die Polen würde dabei auf ihn blicken. Doch Gomulka runzelte immer nur die Stirn, wenn Mao diese Floskel gebrauchte.                                                                  

Die Polen wollten mehr Freiheit, nicht mehr Stalinismus oder mehr Armut. Ein anschauliches Bild von der enormen Diskrepanz zwischen Maos Vorstellungen und der polnischen Wirklichkeit ergab sich, als eine Gruppe polnischer Gäste Mao berichtete, dass ihre Landsleute mit ihrem niedrigen Lebensstandard sehr unzufrieden seien und die Partei den Eindruck gewonnen habe, sie müsse etwas tun, um die Wünsche des Volkes zu er­füllen. Mao antwortete: »Ich glaube nicht, dass der Lebensstandard in Polen zu niedrig ist. Im Gegenteil, ich nehme sogar an, dass er relativ hoch ist: Die Polen nehmen täglich mehr als 2000 oder 3000 Kalorien zu sich, obwohl [etwa 1500] durchaus genügen könnten. Wenn die Leute der Ansicht sind, dass es nicht genug Konsumgüter gibt, sollte das (Regime] seine Propaganda intensivieren.« Ein polnischer Diplomat schrieb nach Maos »Monolog«, die Polen hätten »erkannt, dass die chinesische Unter­stützung nicht umfangreich oder langfristig sein könne, weil ihr eigenes Programm noch stärker »gegen das Volk gerichtet ist als das sowjetische«.

Chou En-lai begriff, dass er nur geringe Chancen hatte, die Polen dazu zu bewegen, Mao als Führer des kommunistischen Lagers vorzuschlagen, und Mao wandte sich sofort dem anderen kommunistischen Land zu, das sich heftig gegen Moskau wehrte: Jugoslawien. Ein Gesandter, der sich bereits im Januar 1957 vor Ort aufhielt, wurde angewiesen, ein hoch geheimes Treffen mit Tito zu arrangieren, bei dem Mao den jugoslawischen Präsidenten dann bat, gemeinsam mit Peking ein Gipfeltreffen des Welt­kommunismus zu finanzieren.17 Dabei gebrauchte er das Argument, die Sowjetunion genieße mittlerweile einen so schlechten Ruf, dass ihr niemand zuhören werde. Zur gleichen Zeit verdammte Mao Tito vor seinem engsten Führungszirkel als Feind des Kommunismus - ebenso wie Gomulka.  Maos Werben um diese beiden kommunistischen Länder war absolut opportunistisch und beruhte allein auf der Tatsache, dass sie sich am deutlichsten gegen Moskau wandten. Tito hörte sich Maos Angebot an, lehnte aber die Mitfinanzierung einer solchen Konferenz ab und sagte nicht einmal seine Teilnahme verbindlich zu.

Mao versuchte außerdem erneut, die Position des Kremls zu schwächen, indem er die Russen dazu brachte, sich selbst zu erniedrigen. Chou verlangte im Januar 1957 in Moskau, dass sich die sowjetische Führung in »offener Selbstkritik« ergehen und Stalin nach Maos Vorgaben neu bewerten solle. Die Russen sträubten sich und wiesen ihn in beiden Punkten - Mao reagierte - nach seinem eigenen Bericht vor Provinzpartei-Sekretären am Telefon, dass diese Leute durch ihre materiellen Errungenschaften zu Kretins geworden sind, und die beste Art, mit ihnen umzugehen, ist eine gute Portion deftiger Flüche. Was haben sie denn schon? Nicht mehr als 50 Millionen Tonnen Stahl, 400 Millionen Tonnen Kohle und 80 Millionen Tonnen Öl ... Und wenn schon! Mao führte seinen Misserfolg bei der versuchten Ablösung Chruschtschows auf Chinas wirtschaftliche Schwäche zurück.

 

In Budapest erzählte man sich damals einen Witz über einen Mann, der Tee kaufen wollte.  Auf die Frage: »Welchen Tee möchten Sie - russischen oder chinesischen?«, antwortete der  Mann: »Ich nehme lieber Kaffee!". Quelle: Gespräch mit Stephen Vizinczey.

 

Mao erlebte noch weitere Enttäuschungen. Eine davon war das Geschehen im Nahen Osten, wo zur gleichen Zeit wie in Ungarn eine schwere Krise ausbrach. Der Streitgrund war die Verstaatlichung des Suezkanals durch Ägypten im Juli 1956. Israel griff am 29. Oktober Ägypten an und diente dabei als Speerspitze einer insgeheim koordinierten israelisch-britisch-französischen Invasion.

Mao reizte es, als Beschützer und Lehrer der Ägypter aufzutreten. Er in­szenierte gewaltige Demonstrationen gegen die Briten und die Franzosen, an denen sich fast 100 Millionen Menschen beteiligten. Ein Besucher aus Francos Spanien, der in Peking eine dieser Veranstaltungen erlebte, gewann folgenden Eindruck: »Schlimmer als eine Versammlung der Faschisten. Überall gibt es Anführer, die in Jubelrufe ausbrechen, und alles ruft, wenn sie rufen. Das sind keine echten Demonstranten ... Äußerst langweilig.«21 Mao geizte nicht mit Ratschlägen für General Hassan Ragab, den ägyptischen Botschafter, und sein Themenspektrum reichte vom richtigen Umgang mit dem exilierten König Faruk bis zu Tipps, wie Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser der Ermordung entgehen könnte. Er drängte den Botschafter, »die chinesischen Erfahrungen« zu studieren, denn diese seien »sehr wertvoll«.22 Mao drängte Ragab seine Hilfe förmlich auf und machte dabei kaum einen Hehl um seine Rivalität mit Russ­land: »Die Sowjetunion wird tun, was sie kann, um Ägypten zu helfen. Auch China würde gerne sein Möglichstes tun, um Ägypten zu helfen, und unsere Hilfe ist nicht an Bedingungen geknüpft. Was immer Sie brauchen, sagen Sie es uns ... Unsere Hilfe für Sie muss nicht zurückgezahlt werden ... Und wenn Sie unbedingt zurückzahlen wollen, ... dann tun Sie das in hundert Jahren.« China gab Nasser einen Barkredit in Höhe von 20 Millionen Schweizer Franken und manipulierte die bilaterale Handelsbilanz massiv zu Gunsten Ägyptens.2'

Mao war so erpicht darauf, bei diesem Konflikt mitzumischen, dass Nasser am 3. November einen Kriegsplan zukommen ließ.24 Seinem entsprechend bot er Kanonenfutter an: 250000 chinesische Freiwillige Nasser nahm dieses Angebot nicht an - zum Glück für die »Freiwilligen«, aber auch für Mao, denn China verfügte gar nicht über die Kapazität für den Transport so vieler Menschen in den Nahen Osten.

Nasser beachtete Maos Vorschlag kaum. Mohammed Heikai, Nassers Chefberater, sagte uns, der Präsident habe Maos Kriegsplan im Stapel seiner Korrespondenz ganz unten liegen lassen.26 In Wirklichkeit wollte Nas­ser nur Waffen. Er hatte beschlossen, im Frühling diplomatische Bezie­hungen zu Peking aufzunehmen, so dass China, das kein UN-Mitglied war, als Zwischenstation für russische Waffen dienen konnte, falls es zu einem UN-Waffenembargo kommen sollte.

Kairo bat im Dezember um Waffenlieferungen, und China bot umge­hend an, alles zu liefern, was die eigene Produktion hergab - kostenlos.27 Doch zu diesem Zeitpunkt waren das nur kleine Waffen, zum Beispiel Ge­wehre, und das Angebot wurde nicht in Anspruch genommen. Mao fand sich in der Zuschauerrolle wieder. All dies machte ihn nur noch ungedul­diger; er wollte sein Supermachtprogramm beschleunigen und in den Be­sitz der Bombe gelangen. Andernfalls, so sah er es, »hören einem die Men­schen einfach nicht zu«.28

Für dieses Vorhaben brauchte er Chruschtschow. Zum Glück für Mao brauchte Chruschtschow auch ihn. Der Aufruhr in Polen und Ungarn hatte kaum nachgelassen, als Chruschtschow sich einer Krise im eigenen Land stellen musste. Molotow, Malenkow und eine Gruppe von Altstalinisten versuchten ihn im Juni 1957 zu stürzen. Chruschtschow vereitelte diesen Putschversuch, bemühte sich danach aber um ausdrückliche Unterstützung durch kommunistische Parteien im Ausland. Andere kommunistische Führer versicherten ihm rasch das Gewünschte. Mao tat das nicht. Also schickte Chruschtschow Mikojan, der Mao im Süden Chinas traf, in Hangzhou, am Westsee. »Ich glaube, dass sie sich als Gesandten irgendeine hochrangige Persönlichkeit wünschten«, sagte uns Mikojans Dolmetscher.24 Mao ließ Mikojan den größten Teil des Abends reden, dann machte er über die Schulter hinweg eine desinteressierte Geste in Richtung seines früheren Botschafters in Moskau: »Alter Wang |Jia-xiang], wo ist unser Telegramm?« Das Unterstützungs-Telegramm hatte die ganze Zeit bereitgelegen. Natürlich würde Mao Chruschtschow unterstützen, denn schließlich war er der Machthaber im Kreml. Er wollte von Chruscht­schow ausdrücklich darum gebeten werden und seinen eigenen Preis erhöhen. China bat im Gegenzug sofort um neue Verhandlungen zum Ab­kommen über den Technologietransfer.'"

Moskau reagierte äußerst positiv und erklärte, man werde China mit Freuden beim Bau von Atombomben, Raketen und modernen Kampf-Flugzeugen behilflich sein. Es stellte sich heraus, dass Moskau noch mehr Hilfe von Mao brauchte. Für den 7. November war das größte Gipfeltreffen geplant, das es in der kommunistischen Welt jemals gegeben hatte Anlass war der 40. Jahrestag der Oktoberrevolution. Moskau musste Mao an Bord haben, wenn dieses Ereignis glatt über die Bühne gehen sollte.

Mao nutzte diese Konstellation aus, so gut es nur ging. Er erklärte werde am Gipfel nur teilnehmen, wenn die Russen zuvor ein Abkommen unterzeichneten, mit dem sie »die Übergabe der Materialien und Pläne für die Produktion einer Atomwaffe und die Mittel zu deren Realisierung« garantierten.31 Am 15. Oktober, drei Wochen vor dem Termin für das Gipfeltreffen, unterzeichnete Moskau ein schicksalhaftes Abkommen, mit dem es der Lieferung einer Musterbombe an Mao zustimmte. Zwölf russische Ministerien wurden angewiesen, »den Chinesen alles zur Verfügung zu stellen, was sie benötigen, um ihre eigene Bombe zu bauen«. Innerhalb kurzer Zeit wurden so viele Raketenexperten nach China geschickt, dass dies nach den Worten eines russischen Experten im Raketenprogramm seines eigenen Landes ein »Chaos« anrichtete.33 Russische Experten hal­fen China auch bei der Auswahl von Raketen- und Atomtestgeländen tief im Landesinneren.

Igor Kurtschatow, der »Vater der russischen Bombe«, meldete zwar hef­tige Bedenken an, doch Chruschtschow entsandte Jewgeni Worobjow, einen der führenden Atomphysiker des Landes, zur Überwachung des Baus von Maos Bombe nach China, und während Worobjows Aufenthalt dort wuchs die Zahl der chinesischen Atomexperten von 60 auf 6000. Chou berichtete im kleinen Kreis, dass Russland »bereit ist, uns alle Blau­pausen zu überlassen. Alles, was es bisher gebaut hat, einschließlich der Atombomben und Raketen, wird es uns geben. Das ist größtmögliches Vertrauen, größtmögliche Hilfe.«34 Als Chruschtschow später dann sagte: »Sie bekamen viel von uns ...«, warf Mikojan ein: »Wir bauten [Atom-waffen-]Fabriken für die Chinesen.«35

 

* Chruschtschow übergab zwei Kurzstrecken-Boden-Boden-Raketen des Typs R-1,   die China nachbaute, doch er verweigerte die Lieferung von Raketen mit einer Reichweite von mehr als 2900 Kilometern. Die Russen stationierten außerdem in der Nähe von Peking ein Raketenregiment mit 63 R-1- und R-2-Raketen, an denen die Chinesen ausgebildet wurden. Quellen: Baturow, S. 39; Chruschtschow, S. Z66-272; Gobarew, » Gontscharenko, S. 156-159; Dolinin.


Das sowjetische Know-how ermöglichte es den Chinesen, Entwicklungsschritte abzukürzen im sicheren Wissen, dass dieses Verfahren funktionierte. So wurde der Bau von Maos Bombe erheblich beschleunigt. China war das einzige Land der Welt, dem beim Bau von Atomwaffen dieses Ausmaß an Hilfe zuteil wurde. Die eigene Delegation erklärte kurz vor der Unterzeichnung des neuen Abkommens, dass er angesichts dieses Umfangs an russischer Hilfe bis Ende 1962 über alle Attribute einer militärischen Supermacht verfügen könne.36 Dieses Vorhaben kostete ein Vermögen. Eine maßgebliche westliche Quelle schätzte die Herstellungs­kosten der Bombe für China allein auf 4,1 Milliarden US-Dollar (nach dem Kurs von 1957).37Ein großer Teil davon wurde mit Nahrungsmitteln bezahlt.

Die Atombombe und die Raketen genügten Mao aber nicht. Er wollte mehr. Russland startete am 4. Oktober 1957 einen Sputnik-Satelliten, den ersten von Menschen gebauten Flugkörper im Weltraum. Durch den Flug des Sputniks hatte die kommunistische Welt den Westen auch zum ersten Mal auf technischem Gebiet »überholt«. Mao wollte unbedingt und so­fort in die Weltraumfahrt einsteigen. »Was immer auch geschieht, wir müssen Sputniks haben«, sagte er im Mai 1958 vor der chinesischen Füh­rungsspitze.38 »Nicht ein Kilo oder zwei Kilo schwer ... Sie müssen meh­rere 10000 Kilo schwer sein ... Wir wollen keine Hühnereier bauen wie die Amerikaner.« Der erste US-Satellit, der im Januar 1958 gestartet wurde, hatte nur 8,22 Kilogramm gewogen, der Sputnik dagegen 83,6 Ki­logramm. Mao wollte einen Satelliten, der größer war als die Konstruk­tionen der Amerikaner oder Russen, und er wollte ihn bereits 1960 star­ten sehen.

Mao flog am 2. November 1957 zum kommunistischen Gipfeltreffen nach Moskau, denn er hatte beschlossen, sich kooperativ zu verhalten, um Chruschtschow alles abringen zu können, was er haben wollte. Zugleich wollte er sich vor der versammelten kommunistischen Welt als eine Chruschtschow ebenbürtige Führungspersönlichkeit präsentieren, viel­leicht sogar als ihm überlegen. Zu diesem größten kommunistischen Gipfeltreffen aller Zeiten erschienen die Vorsitzenden von 64 kommunis­tischen und den Kommunisten nahe stehenden Parteien. Zwölf kommu­nistische Parteien waren zu diesem Zeitpunkt an der Macht. Mao ließ den Russen kurz vor seiner Abreise aus Peking einen Vorschlag zukommen: Die Abschlusserklärung des Treffens sollte nur vom ihm selbst und den Gastgebern unterschrieben werden.39

Mao kam damit zwar nicht durch, doch die Chinesen schrieben die Abschlusserklärung gemeinsam mit den Russen, und Mao wurde in Moskau bevorzugt behandelt.40 Er war der einzige ausländische Parteiführer, der im  Kreml untergebracht wurde, wo alles nach seinem Geschmack einge­richtet war, mit einem großen Holzbett und einer Hocktoilette. Bei der Feier zum Jahrestag der russischen Oktoberrevolution traten Mao und Chruschtschow Hand in Hand auf.41 Bei den Paraden auf der Gorki Straße und auf dem Roten Platz schwenkten die Menschen chinesische Fahnen und riefen: »Lang leben Mao und China!«

Maos größtes Kapital bei seinem Streben nach Gleichwertigkeit mit Russland waren Chinas Menschen. Ein Moskowiter sagte damals zu einem führenden finnischen Kommunisten: »Vor Amerika müssen wir keine Angst mehr haben. Die chinesische Armee und unsere Freundschaft mit China haben die weltpolitische Situation verändert, und Amerika kann nichts dagegen tun.«42

Dies war auch das Pfund, mit dem Mao wäh­rend seines Moskauaufenthaltes wucherte. Er rechnete Chruschtschow vor, wie viele Divisionen jedes Land im Verhältnis zu seiner Bevölke­rungszahl mobilisieren könnte.45 Dabei übertraf China Russland und alle seine anderen Verbündeten zusammen im Verhältnis zwei zu eins. Un­mittelbar nach seiner Rückkehr aus Moskau lehnte Mao eine effektive Geburtenkontrolle für China entschieden ab, während das Regime sich zuvor für eine solche Politik sehr aufgeschlossen gezeigt hatte.44

Um zu demonstrieren, dass er sich als dem Gastgeber ebenbürtig und über den anderen Teilnehmern stehend betrachtete, wischte Mao den Konferenzbrauch beiseite, dass jeder Redner sein Manuskript vorab ein­zureichen hatte, und erklärte: »Ich habe keinen Text. Ich will mir die Mög­lichkeit offen halten, frei zu sprechen.«41 Er vermied es in der Tat, seinen Redetext niederzuschreiben, doch seine scheinbar improvisierten Anspra­chen waren mit großer Sorgfalt vorbereitet. Mao war aufs Äußerste kon­zentriert, als er die Kongresshalle betrat. Er war so geistesabwesend, dass er überhaupt nicht zu bemerken schien, was vor sich ging, als ihm sein chinesischer Dolmetscher den Kragen zuknöpfte, während sie auf den Aufzug warteten.

Mao war außerdem der einzige Redner, der im Sitzen sprach, von sei­nem Platz aus. Er erklärte dazu, sein Kopf habe ihm Probleme gemacht. Der jugoslawische Botschafter merkte hierzu nur trocken an, das habe »die Mehrheit der Anwesenden überrascht«.

Mao sprach über Krieg und Tod mit einer groben, ja schnoddrigen Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Menschen:

Lasst uns abwägen, wie viele Menschen sterben würden, wenn ein Krieg ausbräche. Die Weltbevölkerung zählt 2,7 Milliarden Menschen. Ein Drittel davon könnte sterben; oder ein bisschen mehr,  könnte auch die Hälfte sein ... Im schlimmsten Fall stirbt die Hälfte und die andere Hälfte überlebt, aber der Imperialismus würde ausgelöscht, und die ganze Welt würde sozialistisch.47

Mao hatte zuvor bereits ähnliche Dinge geäußert, allerdings in nicht ganz so offensichtlich gefühlloser Sprache. Dem finnischen Botschafter sagte er 1955, dass Amerika nicht genug Atombomben hat, um alle Chinesen auszulöschen. Selbst wenn die Atombomben ... auf China abgeworfen wurden, ein Loch in die Erde rissen oder die ganz und gar in Stücke reißen würden, konnte das im Sonnensystem zwar ein großes Ereignis sein, doch mit Blick auf das gesamte Universum wäre es immer noch unbedeutend.« Quelle: *Mao 1977, S. 13 6f. (E: Kau und Leung, S. 516).

Pietro Ingrao, ein italienischer Teilnehmer, erzählte uns, das Publikum sei »schockiert« und »bestürzt« gewesen.48 Mao erweckte den Eindruck, als habe er gegen einen Atomkrieg nicht nur nichts einzuwenden, sondern würde er ihn tatsächlich sogar begrüßen. Der jugoslawische Delegations­leiter Kardelj hegte keinerlei Zweifel: »Es war völlig klar, dass Mao Tse- tung einen Krieg wollte ...« Sogar die stalinistischen Franzosen waren ent­setzt. Und Mao verwarf alle Bedenken in Sachen Lebensstandard:

Manche Leute sagen, Armut sei schlecht, doch in Wirklichkeit ist Ar­mut etwas Gutes. Je ärmer die Menschen sind, desto revolutionärer sind sie. Eine Zeit, in der alle Menschen reich sein werden, ist eine furchtbare Vorstellung ... Bei einem Kalorienüberschuss werden den Menschen zwei Köpfe und vier Beine wachsen.49

Maos Vorstellungen liefen der gesellschaftlichen Stimmung in den post-stalinistischen kommunistischen Regimes diametral zuwider, denn diese wollten den Krieg verhindern und den Lebensstandard ihrer Bürger ver­bessern. Mao kam mit solchen Aussagen nicht gut an. Er traf zwar mit zahlreichen führenden Kommunisten jener Epoche zusammen, anders als bei seinem ersten Moskau-Besuch, als Stalin sämtliche Treffen dieser Art unterbunden hatte, und er nutzte auch jede Gelegenheit, um Ratschläge zu erteilen, doch nur wenige nahmen seine Äußerungen ernst. In den Auf­zeichnungen des britischen KP-Chefs John Gollan findet sich folgende Notiz zu Maos Ratschlägen für die winzige und unbedeutende britische KP: »..Wartet auf den richtigen Augenblick - eines Tages wird England euch gehören - und tötet sie nicht, wenn ihr den Sieg erringt, sondern gebt ihnen ein Haus«!" Dem bulgarischen KP-Chef Todor Schiwkow, einem drittrangigen Politiker, der einer der jüngsten anwesenden Delegierten war, sagte er: »Sie sind jung und klug ... Nach dem weltweiten Sieg des Sozialismus werden wir Sie als Präsidenten der kommunistischen Weltge­meinschaft vorschlagen. «51 Niemand außer Schiwkow selbst glaubte, dass dies ernst gemeint war. Mao faszinierte einige der Gipfelteilnehmer, doch er schuf sich damit nicht jene Art von Respekt, aus der Loyalität und Ver­trauen erwachsen.

Mao schrieb diesen Fehlschlag Chinas geringer wirtschaftlicher und militärischer Macht zu. »Wir sind ein kleiner Baum, und die Sowjetunion ist ein großer Baum«, erklärte er dem Polen Gomulka, wobei er die Stahlproduktion als Maßstab benutzte. Er war wild entschlossen, dies zu ändern. In seiner Schlussansprache verkündete er: »Der Genosse Chruschtschow sagte mir, die Sowjetunion könne Amerika innerhalb von fünfzehn Jahren überholen. Und ich kann sagen, dass wir bis in fünfzehn Jahren vielleicht Großbritannien einholen oder überholen.«53 Das sollte heißen- Er war jetzt ebenfalls im Rennen, ein Mitspieler so gut wie Chrusch­tschow.

Mao trat recht großspurig auf und redete mit dem sowjetischen Parteichef wie ein Lehrer, um Chruschtschow herabzusetzen: »Sie haben ein hitziges Temperament, mit dem Sie sich leicht Feinde machen ... Lassen Sie die Leute ihre unterschiedlichen Ansichten vortragen und sprechen Sie langsam mit ihnen.«54 Vor einer großen Zuhörerschaft gab sich Mao noch überlegener:

Wir alle brauchen Unterstützung. Ein tüchtiger Bursche benötigt die Hilfe von drei anderen, ein Zaun braucht drei Pfosten, wenn er halten soll. Das sind chinesische Sprichwörter. Ein weiteres chinesisches Sprichwort sagt, dass die Lotosblüte bei all ihrer Schönheit das Grün ihrer Blätter braucht, um voll zur Geltung zu kommen. Sie, Genosse, Chrusch­tschow, sind zwar ein wunderschöner Lotos, doch auch Sie brauchen, wenn Sie richtig zur Geltung kommen wollen, die Blätter ..."

Nach dem Bericht eines Anwesenden »senkte« Chruschtschow an dieser Stelle »den Kopf und wurde tiefrot«.56Was noch schlimmer war: Vor den Delegierten aus allen 64 Teilnehm­erländern sprach Mao den erst wenige Monate zurückliegenden Putsch­versuch gegen Chruschtschow an und bezeichnete Molotow, den Kopf der Verschwörung, als »einen alten Genossen mit einer langen Kampferfahrung«, während er zugleich behauptete, Chruschtschows Linie sei nur »re­lativ korrekt«; an dieser Stelle wurde es totenstill im Saal. Mao sagte in privaten Gesprächen zu führenden russischen Politikern wiederholt Dinge wie: »Wir hatten Molotow sehr gern.« (Der höchst unliebenswürdige Molotow hatte China 1955 als »zweite Führungsmacht« des kommunistischen Lagers bezeichnet.)

 

Mao spielte ganz bewusst die Rolle des überlegenen Philosophen und bediente sich einer mir chinesischen Metaphern angereicherten Sprache, die Nichtchinesen seltsam anmutete und nahezu unübersetzbar war. Einer der italienischen Dolmetscher erinnert sich: »Über die russische Übersetzung hörte ich, dass niemand verstand, was Mao sagte. Ich erinnere mich, dass unsere Übersetzer verzweifelt den Kopf in den Händen bargen. Es war in der Tat so, dass selbst ein chinesisches Publikum raten musste, worauf Mao hinauswollte, wenn er diesen Stil verwendete. Quelle: Interview mir Longo vom 29. 1996.

Chruschtschow schrieb in seinen Memoiren über Maos »Größenwahn«: »Mao hielt sich für einen von Gott gesandten Menschen, der Got­tes Geheiß erfüllen sollte. Mao dachte vielleicht sogar, Gott erfülle Maos eigenes Geheiß.«58 Doch Mao war nicht einfach nur größenwahnsinnig, er versuchte gezielt, Chruschtschow klein zu machen und sich selbst zu er­höhen. Chruschtschow nahm all dies hin, weil er die Einheit des kommu­nistischen Lagers erhalten wollte. Dieses Bestreben band Chruschtschow im Umgang mit Mao die Hände, und Mao nutzte diesen Schwachpunkt nach Kräften aus.

Nach der Rückkehr aus Moskau setzte Mao einen weiteren Gegenstand, der ihm sehr wichtig war, auf seine Einkaufsliste: U-Boote, von denen aus Atomwaffen abgefeuert werden konnten, denn Peking betrachtete sie als »das Ass im modernen Waffenarsenal«. Chou schrieb im Juni 1958 an Chruschtschow und bat um die Technologie und die Ausrüstung für den Bau dieses Waffen-Systems, und er sprach auch von Flugzeugträgern und weiteren großen Kriegsschiffen.59

Diesmal gab Chruschtschow jedoch nicht einfach das heraus, was Mao gerne haben wollte. Er versuchte sich vielmehr eine Gegenleistung zu si­chern: Nutzungsrechte an der langen chinesischen Küste, von der aus man, anders als in Russland, leichten Zugang zu den Ozeanen hatte. Chruschtschow schlug vor, dass China (und Vietnam) Schiffsbesatzungen stellen könnten, die auf russischen Schiffen mitfuhren, wobei diese Schiffe dann im Gegenzug chinesische (und vietnamesische) Häfen anlaufen könnten. Botschafter Judin unterbreitete Mao diesen Vorschlag am 21, Juli 1958.60

 

Mao wollte eine eigene Flotte und außerdem auch seine eigenen Schiffe bauen. Er inszenierte einen Wutanfall, um einen Vorwand für die Ableh­nung des russischen Kooperationsvorschlags zu haben. Am folgenden Tag, dem 22. Juli, rief er Judin erneut zu sich und sagte ihm: »Sie haben mich so aufgebracht, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte.« Dann bog er Moskaus Angebot zu einem Problem für die Souveränität Chinas um, indem er die Russen beschuldigte, dass sie sein Land durch eine »gemeinsame Flotte ... kontrollieren wollen«.  »Es läuft darauf hinaus, dass ihr den Chinesen nicht vertraut ...«. In diesen Ausbruch ließ Mao dann sein wahres Anliegen einfließen: »Ihr müsst uns beim Bau einer Marine helfen! ... Wir wollen zweihundert oder dreihundert [Atom-] U-Boote haben« (Hervorhebung von uns). Maos Wutausbruch alarmierte Chruschtschow - wie Mao sich das erhofft hatte -, der dann unter Geheimhaltung am 31. Juli nach Peking eilte.

 

Mao begrüßte ihn betont unterkühlt. Wahrend der ersten Verhandlungs­runde der beiden Parteichefs erklärte Chruschtschow ohne Umschweife »Eine gemeinsame Flotte war niemals vorgesehen.« Nach einigem rheto­rischen Schwulst steckte Mao schließlich zurück und räumte ein, dass seine Deutung von Chruschtschows Vorschlag nicht fundiert gewesen sei und er sich grundlos »um den Schlaf gebracht» hätte. Dennoch benahm er sich weiterhin so, als sei er in seinem Nationalstolz tödlich beleidigt worden. Maos Theatralik aber hatte Chruschtschow dahin gebracht, ihm weiter als nur auf halbem Weg entgegenzukommen. Der sowjetische Par­teichef bot China den Bau »einer großen Fabrik ... für die Produktion einer großen Zahl von Atom-U-Booten« an. Mit massiven Andeutungen Russland könnte sonst in einen Krieg hineingezogen werden, hielt Mao den Druck aufrecht: »Da wir noch keine eigene Flotte von Atom-U-Boo­ten haben, könnten wir euch genauso gut unsere gesamte Küste überant­worten, damit ihr für uns kämpft.«62 Um sein Anliegen zu unterstreichen, führte Mao sofort nach Chruschtschows Abreise eine bedrohliche, kriegs­ähnliche Situation herbei, und wieder benutzte er dazu Taiwan.

Die zweite Taiwan-Krise ähnelte sehr stark dem ersten Konflikt aus den Jahren 1954/55, den Mao inszeniert hatte, um seinen Verbündeten zur Herausgabe der Atombomben- Technologie zu drängen. Diesmal wollte er Atom-U-Boote sowie weitere modernste Waffentechnik haben. Am 23. August ließ Mao die winzige Insel Quemoy, das Sprungbrett nach Taiwan, unter schweren Artilleriebeschuss nehmen. Mehr als 30 000 (meist aus russischer Fertigung stammende) Granaten wurden auf das nur 132 Qua­dratkilometer große Eiland abgefeuert. Washington nahm an, dass Mao eine Invasion Taiwans vorbereitete. Niemand im Westen ahnte sein wirkliches Ziel: Er wollte die USA zu einer Drohung mit Atomwaffen zwingen, die der Einschüchterung seines eigenen Verbündeten diente - eine List, die in den Annalen der Staatskunst einmalig ist.

Die USA verlegten ein großes Flottenaufgebot in dieses Gebiet. Am 4. September gab Außenminister John Foster Dulles bekannt, die USA seien entschlossen, nicht nur Taiwan, sondern auch Quemoy zu verteidi­gen, und verband dies mit der Drohung, notfalls auch das Festland zu bombardieren. Der Kreml wurde wegen eines drohenden bewaffneten Konflikts mit den USA äußerst nervös und schickte am folgenden Tag seinen Außenminister Andrei Gromyko in geheimer Mission nach Peking, seinem Gepäck hatte er den Entwurf eines Briefes von Chruschtschow an Eisenhower, in dem es hieß, ein Angriff auf China sei «ein Angriff auf die Sowjetunion«. Chruschtschow bat um einen Kommentar Maos, von dem er sich eine Versicherung erhoffte, dass es nicht so weit kommen werde« .

Mao entsprach dieser Erwartung und sagte zu Gromyko, dass »wir dies­mal nicht gegen Taiwan vorgehen werden, und wir werden auch nicht ge­gen die Amerikaner kämpfen, deshalb wird es auch keinen Weltkrieg geben«- Doch er machte deutlich, dass ein Krieg um Taiwan »in Zukunft« definitiv möglich sei und dass dies sehr wahrscheinlich ein Atomkrieg sein würde.64

Chruschtschow ging davon aus, dass Mao ohne weiteres einen solchen Krieg auslösen könnte, aber in seinen Memoiren schrieb er:

 

»Wir unternahmen nichts, um unsere chinesischen Genossen zurückzuhalten, denn wir waren der Ansicht, dass sie absolut im Recht seien, wenn sie versuchten, alle zu China gehörenden Gebiete zu vereinigen

 

Das war das Gute, das sich für Mao mit dem Taiwan-Problem verband:

Selbst wenn dadurch die Auslösung eines dritten Weltkrieges im Raum stand, konnte Moskau ihn dafür nicht tadeln.(!! Hervorhebung G.J. )

Nachdem Mao auf diese Weise das Szenario für einen künftigen Atomkrieg um Taiwan eingeführt hatte, der gegen die USA ausgefochten werden sollte, strapazierte er die Nerven der Russen aufs Äußerste. Er sagte zu Gromyko, mit Chruschtschow wolle er sich bei Gelegenheit einmal darüber unterhalten, wie man in so einem Krieg zusammenarbeiten könne, und brachte dann die Schreckensvision ins Gespräch, dass Russland ausgelöscht werden könnte. »Wo sollen wir die Hauptstadt der sozialisti­schen Welt errichten?«, wollte er wissen und bezog sich dabei auf die Zeit nach dem Krieg, was natürlich bedeutete, dass Moskau dann nicht mehr existierte. Er schlug vor, die neue Hauptstadt auf einer künstlichen Insel im Pazifik zu errichten. Diese Bemerkung erschütterte Gromyko so sehr, dass er sie gar nicht in seinen telegrafischen Bericht an Moskau aufnehmen wollte; nach Auskunft des Gromyko- Beraters, der das Telegramm abfasste, widmete jedoch der Kreml Maos Geistesblitz »besondere Aufmerksamkeit«.

  Nachdem er Gromyko zutiefst verunsichert hatte, beschwichtigte Mao ihn mit der Bemerkung, China werde die ganze Wucht des künftigen Atomkrieges auf sich nehmen. »Unsere Politik orientiert sich daran, dass wir die vollen Konsequenzen dieses Krieges alleine tragen werden. Wir werden es mit Amerika aufnehmen, und ... wir werden die Sowjetunion nicht  in diesen Krieg hineinziehen.« Doch da sei noch etwas zu berücksichtigen, sagte Mao: »Wir müssen uns auf den Krieg mit Amerika vorbereiten«, und dazu gehörten auch »materielle Vorbereitungen«. Chou En lai erklärte dem russischen Geschäftsträger, was damit gemeint war: Wir haben Pläne erarbeitet, wie wir mit Hilfe der Sowjetunion moderne Waffen herstellen können.« Mao hatte seine Position deutlich gemacht:

Ihr könnt euch heraushalten, wenn ihr es mir ermöglicht, meinen Krieg allein zu führen.

Chruschtschow begriff. Am 27. September schrieb er an Mao: »Danke für Ihre Bereitschaft, einem Angriff zu begegnen, ohne die Sowjetunion in Anspruch zu nehmen«,66 und am 5. Oktober ließ er die Erklärung folgen, die Taiwan-Krise sei eine »innere« Angelegenheit, und Russland werde sich nicht in einen Konflikt einmischen, den er als »Bürgerkrieg« bezeich­nete. Indem Chruschtschow erklärte, er werde Mao einen Atomkrieg mit Amerika allein austragen lassen, signalisierte er zugleich sein Einver­ständnis für eine entsprechende Bewaffnung Chinas. Bereits am folgenden Tag verfasste Mao im Namen seines Verteidigungsministers eine Stellung­nahme, mit der der Beschuss Quemoys ausgesetzt wurde. Damit war die zweite Taiwan-Krise beendet.

Mao schrieb anschließend einen Brief an Chruschtschow, mit dem er bestätigte, dass China einen Atomkrieg mit Amerika nur zu gerne allein austragen würde. Sein Angebot lautete: »Wir [das heißt das chinesische Volk, das nicht gefragt worden war] sind bereit, den [amerikanischen atomaren] Erstschlag auf uns zu nehmen, für den Endsieg, für die voll­ständige Ausrottung der Imperialisten. Dabei wird es nur einen großen Haufen Tote geben [Hervorhebung von uns].«67

Um den Taiwan-Konflikt am Köcheln zu halten, befahl Mao, Quemoy erneut zu beschießen, reduzierte die Angriffe aber schließlich auf jeden zweiten Tag. Diese typisch maoistische Extravaganz war eine enorme Be­lastung für die Wirtschaft. Der Stabschef der Armee, der in Maos Pläne nicht eingeweiht worden war, protestierte: »Der Beschuss ist wenig sinn­voll. Er kostet aber einen Haufen Geld ... Warum sollten wir das tun?«68 Mao hatte dem nichts zu entgegnen bis auf die Beschuldigung, der Gene­ral sei ein »Rechtsabweichler«; er fiel bald darauf der Säuberung zum Opfer. Der kostspielige Beschuss der Felseninsel ging noch 20 Jahre lang weiter und wurde erst nach Maos Tod eingestellt, am Neujahrstag 1979» dem Tag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Peking und Washington.

Chruschtschow segnete jetzt eine Reihe von Transfers aus dem Bereich der Spitzentechnologie ab. Das führte am 4. Februar 1959 zu einer erstaunlichen Abmachung, mit der sich Russland verpflichtete, China bei der Produktion einer ganzen Reihe moderner Schiffstypen und Waffensysteme zu unterstützen.69

 

 

Durch die von der ersten Taiwan-Krise ausgelöste Panik hatte sich Moskau die Geheimnisse der Atombombe entlocken lassen, und jetzt, vier Jahre später, hatte Mao im Gefolge der zweiten Tai­wan-Krise Chruschtschow ein Abkommen abgerungen, mit dem die gesamte Ausrüstung für den Bau der Bombe transferiert wurde.

 

Mao hatte sein Supermachtprogramm erstmals im Jahr 1953 skizziert, und im Lauf der Jahre war dieses Programm ungeheuer erweitert worden, doch jede Ausweitung des Planungsrahmens hatte lediglich ein grundle­gendes Problem verschärft: Wie konnte man den Menschen genug Nah­rungsmittel für die Bezahlung dieser Einkäufe abpressen? Das Programm war 1956 noch viel kleiner gewesen, und dennoch hatten die Hungertoden das ansonsten gefügige Politbüro so schockiert, dass es den Plan blo­ckiert und Mao gezwungen hatte, das Tempo zu verringern. Jetzt, mit Blick auf die neuen Pläne, war mit sehr viel mehr Toten zu rechnen. Doch dieses Mal musste Mao der eigenen Führungsspitze keine Zugeständnisse mehr machen.

Im Lauf des Jahres 1957 hatte er eine grundlegende Sache zu seinen Gunsten verändert: Chruschtschow hatte in Peking keinerlei Autorität mehr, und Mao fühlte sich von ihm in seinem Handeln nicht mehr eingeengt.

 

***