Auszug aus

Wolfgang Ruge – „Stalinismus“-

Eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte

ISBN 3-326-00630-6

Deutscher Verlag der Wissenschaften

 

Nichts war vorherbestimmt

Drei Jahrzehnte lang wurde Stalin in der Sowjetunion wie ein übernatürliches Wesen verehrt. In keiner Amtsstube fehlte sein Konterfei, von dem beflissene Retuscheure die groben Pockennarben wegpoliert hatten. In Bronze und Marmor reckte er sich als Tribun und Generalissimus auf den Plätzen der Städte, bunt prangte sein Porträt als Blumenteppich in den Kulturparks, hundertsprachig hallten die ihn preisenden Hymnen durchs Land. Zitate aus seinen Werken würzten jeden Leitartikel, jedes Buchvorwort, und keine Rede war denkbar ohne das Schluß- Lebehoch auf den großen Führer. Ovationen für den genialen Lehrer und Steuermann, für den weisen Vater der Völker, für den ruhmreichen Organisator welthistorischer Siege gehörten zu den Bürgerpflichten. Einer der Chefideologen der Partei, Jemeljan Jaroslawski, hatte den Slogan erfunden «Stalin ist der Lenin von heute», und ein zehntausendfach verbreitetes Foto zeigte den Titanen denn auch, gemütlich sein krummes Pfeifchen an schmauchend, mit einem verschmitzten Lächeln a`la Wladimir Iljitsch.

Die aus der Menschheitsgeschichte weidlich bekannte Massenhuldigung eines Mächtigen, die dem urwüchsigen Trieb entspricht, sich um den Stärksten zu scharen, und jeweils durch eine propagandistisch angeheizte Sendungseuphorie geformt wird, lebte hier vom Glauben vieler Millionen an die sozialistische Zukunft der Welt. Im allgemeinen Jubel empfand sich jeder als Teilchen des riesigen Vortrupps einer unaufhaltsam voranstürmenden Bewegung. Die Identifikation mit Stalin lieferte den Menschen eine Ersatzantwort auf die unbeantwortbare Frage nach dem Sinn ihres eigenen kleinen Erdendaseins.

Nach dem Tod des Halbgottes im Jahre 1953 begann dessen Glorie langsam zu verblassen. Verunsichert registrierten eifrige Staatsdiener seltsame Lücken in den offiziellen Verlautbarungen. Dort, wo früher der hehre Name geprangt hatte, häuften sich nun marxistisch-leninistische Allgemeinplätze. Die große Mehrheit klammerte sich jedoch weiterhin an den Glanz und den Ruhm des bewährten Idols.

Mitten in die fortwuchernde Verherrlichung des schnauzbärtigen Übermenschen hinein platzte die Geheimrede auf dem 20. Parteitag der sowjetischen KP im Februar 1956. Für das Fußvolk völlig unerwartet, riß der neue erste Mann seinem glorifizierten Vorgänger die strahlende Maske herunter und zeichnete ihn als Verbrecher, Despoten und Mörder. Stalin, so berichtete Chrustschow, hatte massenweise Helden des Bürgerkrieges, ergebene Kommunisten, bewährte Funktionäre unter falschen Anschuldigungen hinrichten lassen. Er legte Beweise dafür vor, daß die seinerzeit als Feinde des Volkes und imperialistische Spione zum Tode verurteilten Mitglieder und Kandidaten des Politbüros Pawel Postyschew, Stanislaw Kossior, Wlass Tschubar, Robert Eiche, Nikolai Wosnessenski mit grausamen Folterungen zu unsinnigen Geständnissen gezwungen worden waren. Janis Rudsutak, ebenfalls Politbüromitglied, der gewissermaßen als festeste Säule der Parteimoral 1933 mit der Leitung der als Parteireinigung bezeichneten Ergebenheitsorgie für Stalin betraut worden war, hatte - so Chrustschow - seine in den Kellern der Sicherheitsbehörden erpressten Aussagen vor Gericht widerrufen, war aber dennoch 20 Minuten nach Abschluß des Verfahrens erschossen worden. Ein Raunen des Entsetzens ging durch den Saal, als der Redner bekanntgab, daß von den 1966 Delegierten des 17. Parteitages im Jahre 1934 (1227 mit beschließender und 739 mit beratender Stimme) zum Zeitpunkt des nächsten Kongresses (1939) 1108, also weit mehr als die Hälfte, dem Terror zum Opfer gefallen waren. Noch schlimmer hatte der Tyrann unter den Mitgliedern des 1934 vom «Sieger»-Parteitag gewählten Zentralkomitees gewütet: Von insgesamt 139 waren 98 im Laufe von fünf Jahren - wie der Terminus technicus lautete - liquidiert worden.

So mutig diese Entlarvungsrede, die eine ganze Gesellschaft und vor allem den noch intakten stalinistischen Apparat herausforderte, auch war, lief sie doch auf eine Bagatellisierung der angeprangerten Verbrechen hinaus.

 Chruschtschow kennzeichnete die begangenen Untaten mit dem verharmlosenden Sammelbegriff des Personenkults, beschrieb sie also als einen, allerdings mit Blut befleckten, Byzantinismus, als anbefohlene Kriecherei. Er erkannte dem einstigen Alleinherrscher sogar bedeutende Verdienste zu und wiederholte dessen Bannfluch gegen die namhaftesten Terroropfer (Lew Trotzki, Grigori Sinowjew, Nikolai Bucharin), die angeblich die «Kapitulation vor der Weltbourgeoisie» betrieben hätten. Eine Analyse der aufgedeckten Frevel umgehend, hütete sich Chrustschow, auch nur anzudeuten, daß Stalins politische Konzeption vom Ansatz her und in allen Verästelungen verfehlt oder gar verbrecherisch war. Zu dieser Einsicht vermochte er, da sein gesellschaftliches Wissen auf den dürftigen Theoriefragmenten der stalinschen Epoche beruhte, nicht zu gelangen. Außerdem konnte er sich eine umfassende Kritik an seinem Vorgänger nicht leisten, weil er selbst als langjähriges (seit Anfang 1938) Politbüromitglied zum Kreis der engsten Vertrauten des Diktators gehört hatte und sich für dessen Unmenschlichkeiten ebenfalls hätte verantworten müssen.1

Vor allem aber befürchteten er und die anderen schwer belasteten Genossen des höchsten Führungsgremiums, die der Demontage des einstigen Landesherrn nur halbherzig zugestimmt hatten, daß noch weiter reichende Enthüllungen die Massen verschrecken, ihren Glauben an das System zerstören, dem Machtmonopol der Partei ein Ende setzen und ein Chaos auslösen könnten.

Die Führungsriege unterband eine Kongreßdiskussion über die stalinsche Vergangenheit und stufte die Geheimrede als vertrauliche Parteisache ein. Der Presse wurde ein Maulkorb verpaßt, doch erhielten die lokalen Parteisekretäre die Weisung, Chruschtschows Referat in geschlossenen Mitgliederversammlungen, auf denen sich niemand Notizen machen durfte, zu verlesen. Bisweilen gelangte dabei aber nur der gekürzte Text zum Vortrag. Desto eindringlicher betonten die sich abquälenden Vorleser jene von einem alsbaldigen ZK-Beschluß nachdrücklich bekräftigten Passagen, in denen Chruschtschow, von beweisbaren Fakten zu puren Behauptungen überschwenkend, die ungebrochene moralisch-politische Kraft der Partei behauptet und beteuert hatte, daß der sozialistische Charakter des Sowjetstaates durch die nun offengelegten und überwundenen Fehler nicht in Frage gestellt sei.

Sowohl die Chrustschowsche Rede als auch der ZK-Beschluß umgingen den eigentlichen Kernpunkt der Stalinismus-Problematik, die übrigens, um keine Assoziationen mit den Begriffen Marxismus und Leninismus aufkommen zu lassen, nicht mit diesem Terminus bedacht wurde. Statt eine argumentierte Aussage darüber zu treffen, ob das verbrecherische Regime eine zwangsläufige Folge der siegreichen sozialistischen Revolution oder lediglich ein vermeidbarer Betriebsunfall beim ansonsten erfolgreichen Aufbau einer neuen Gesellschaft war, flüchteten sich beide Dokumente in voluntaristische Phrasen. Das Abstoßende und Diskreditierende an der eigenen Vergangenheit wurde mit Argumenten der personalistischen Geschichtsinterpretation als Tat eines Bösewichts, als Ausrutscher der Historie verbucht, das Wünschenswerte hingegen als Ergebnis des Wirkens unumstößlicher Gesetze ausgegeben. Knapp und apodiktisch konstatierte der Beschluß, daß «der unüberwindliche Gang der historischen Entwicklung der Menschheit zum Kommunismus» durch nichts aufgehalten werden könne.2 «Bewiesen» wurde dies nach banalem Rezept mit einer etwas anders formulierten Wiederholung des Behaupteten, nämlich mit dem für die ideologisch präparierten Massen durchaus einleuchtenden Hinweis auf die Lehre von Marx und Lenin von der gesetzmäßigen Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus/Kommunismus.

Wenn auch verfeinert, so geistert doch diese Lesart, die das, was nicht hätte sein dürfen (von Trotzki z. B. direkt als «Verrat» an der Revolution, also als Unzulässigkeit, bezeichnet), als Ereignis herunterstuft, das die Geschichte korrigieren wird, noch immer durch die Kontroversen über den Stalinismus. Andererseits trifft man in der Stalinismus-Literatur häufig auf Stimmen, die gerade unter Berufung auf Zwangsläufigkeiten und historische Notwendigkeiten erklären, die seit den mitzwanziger Jahren praktizierten Herrschaftsmethoden seien bereits 1917 vorprogrammiert gewesen und im ökonomisch rückständigen und politisch roten Rußland habe es keine Alternative zur brutalen Diktatur gegeben. Man kann deshalb, wenn man den Stalinismus in den geschichtlichen Prozeß einzuordnen versucht, nicht umhin, einen Blick auf die sogenannten historischen Gesetzmäßigkeiten/Notwendigkeiten zu werfen - auf ihr Zustandekommen, ihren Geltungsbereich, ihr Wesen.

Dabei muß man sich wohl zuvorderst (ganz im Sinne der Marxschen Dialektik) vor Augen halten, daß Marx und Engels, die diese Gesetzmäßigkeiten, in ein geschichtsphilosophisches System eingebettet, erstmalig definierten, tief im Denken des 19. Jahrhunderts verwurzelt waren. Beeindruckt und beflügelt von der Entdeckung immer neuer Naturgesetze, reifte damals die schon durch die Aufklärung vorbereitete Vorstellung von der materiellen Gleichartigkeit allen Seins und der prinzipiellen Möglichkeit, sämtliche in dieser Welt tätigen Kräfte zu erkennen. Die sich ausbreitende Wissenschaftsgläubigkeit verleitete zu der Annahme, daß sich die gesellschaftlichen Prozesse nicht anders als die zusehends besser durchschauten Prozesse in der Natur nach strengen Gesetzen vollzögen. Was sich in einem Bereich aus Beobachtung und Experiment schlußfolgern ließ, meinte man im anderen, da sich ja die Abläufe nicht im Labor wiederholen ließen, aus der historischen Erfahrung und der genauen Beobachtung der zeitgenössischen Gesellschaft ableiten zu können. Tatsächlich gelang es Marx, der eine meisterhafte Analyse der Funktionsweise des damaligen Kapitalismus lieferte, zu Erkenntnissen über die allgemeinen Bewegungsformen der Gesellschaft vorzustoßen, die den Wissensfundus der Menschheit be­deutend bereicherten.

Indes waren die Kenntnisse über die Natur, von deren Vergleichbarkeit mit der Gesellschaft man ausging, wie wir heute wissen, noch sehr bescheiden. Beispielsweise konnte man nicht einmal ahnen, daß die Newtonsche Mechanik eines Tages durch die Einsteinsche Relativitätslehre ergänzt, daß sich also der Geltungsbereich der entdeckten Gesetze einengen würde. Die Allgemeingültigkeit des Erkannten wurde verabsolutiert. Um bei dem Beispiel aus den Naturwissenschaften zu bleiben: Es kam niemandem in den Sinn, daß die Mechanik, die später einschränkend als die klassische bezeichnet wurde, in einem anderen Umfeld (man könnte auch sagen: unter anderen Rahmenbedingungen), etwa im Bereich der Elementarteilchen und beim Auftreten hoher Geschwindigkeiten, nicht mehr gültig sein würde. Analog dazu rechneten auch die Gesellschaftswissenschaftler, die zwar die nicht übersehbaren Umfelderscheinungen berücksichtigten, nicht mit der Möglichkeit, daß qualitativ völlig andere, die entdeckten Gesetze außer Kraft setzende Rahmenbedingungen die historische Szene bestimmen könnten. Verständlicherweise wiegten sie sich in dem Glauben, die entscheidenden Stimuli der gesellschaftlichen Entwicklung endgültig entschleiert zu haben.

Spätestens ein Jahrhundert nach Marx erweist sich jedoch, dass die Weiterentwicklung der Produktivkräfte und die dadurch bewirkte Veränderung der Produktionsverhältnisse nicht unausweichlich Prozesse auslösen, die mit den von ihm ermittelten Gesetzen faßbar sind. Aus der technisch­wissenschaftlichen Revolution ist keineswegs eine höhere Gesellschaftsformation hervorgegangen, und die gewaltige «Vervollkommnung» der Produktivkräfte zu beängstigenden Destruktivkräften hat nicht das als fortschrittlich und überlegen beschriebene Gesellschaftssystem begünstigt, sondern seinen Widerpart. Mehr noch: Der als Ergebnis der gesetzmäßigen Entwicklung ausgegebene sogenannte real existierende Sozialismus bricht vor unseren Augen zusammen.

Diese krassen Beispiele berechtigen wohl zum Zweifel an dem Gesetz von der Abfolge der Gesellschaftsformationen, das vergangene Abläufe zu Notwendigkeiten erhebt, bei der Erklärung der Gegenwart aber versagt. Es muss also die Frage erlaubt sein, ob die historischen Gesetzmäßigkeiten, die beim Streit über die Unvermeidlichkeit oder Vermeidbarkeit des Stalinismus konträr ins Feld geführt werden, überhaupt eine Konfrontation mit der Realität aushalten.

Gewiß, Ursache-Wirkung-Beziehungen bestehen überall, wo Bewegung ist. In der menschlichen (individuellen und gesellschaftlichen) Tätigkeit zeitigt jede Handlung bestimmte Ergebnisse, aus denen Folgen erwachsen, die wiederum Ausgangspunkt für weiteres Handeln sind. Es entstehen Kausalketten. Diese können sich jedoch nie völlig «rein», also ungestört entfalten, weil andere in ihrem Umfeld ausgeübte beziehungsweise in die­sem Umfeld geronnene frühere Tätigkeiten zu ihrer Verwerfung, Verschie­bung, Durchkreuzung führen. Jeder historische Tatbestand wird demzufolge durch eine Unsumme aufeinandertreffender Kausalketten bedingt und geprägt, von denen jede einzelne gegenüber den benachbarten, obwohl sie selbst aus Ursache-Wirkung-Beziehungen erwächst (also in sich gesetzmäßig ist), eine Zufallserscheinung darstellt. Mit anderen Worten: Jedes Einzelereignis, logischerweise noch mehr jedes aus Einzelereignissen sich

mimmierende Phänomen, wie etwa die Herrschaft Napoleons oder der Stalinismus, erst recht aber die Ablösung von Gesellschaftsformationen sind Ergebnis des Zusammentreffens unendlich vieler gesetzmäßiger Zufälle. Das hat auch Engels im ersten Teil des folgenden Gedankenganges zum Ausdruck gebracht. Die Geschichte, schrieb er, mache sich «so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante - das geschichtliche Ergebnis - hervorgeht, die selbst wieder als Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann».3

Das bedeutet zunächst, dass beim Zusammen- und Gegeneinanderwirken der Menschen und Kräfte (natürlich nur im Bereich des Winkels, den die äußeren Vektoren eines Kräfteparallelogramms bilden)4 jedes beliebige Resultat möglich ist. Nicht auszuschließen sind auch extreme Ergebnisse des Kräftespiels, z. B. wenn sich die aneinanderreihenden Zufälle gegenseitig potenzieren. So läßt sich aus dem Gesagten schlussfolgern, daß die Geschichte (innerhalb der oben bezeichneten, zugegebenermaßen schwer auszumachenden Grenzen) immer offen ist, daß also bei keinem Ereignis und bei keiner Verkettung von Ereignissen gesagt werden kann, es beziehungsweise sie seien mit Sicherheit vorherbestimmt gewesen.

Damit ist keineswegs in Abrede gestellt, dass dort, wo stark ausgeprägte Kausalketten hinreichend untersucht und relativ viele der auf sie einwir­kenden gesetzmäßigen Zufälle erkannt sind, generelle Entwicklungstendenzen oder gar Einzelereignisse (etwa der Ausgang einer Schlacht) vor­ausgesagt werden können. Nur ist nie auszuschließen, daß neue, bislang verborgene oder nicht wahrgenommene, ganz anderen Bereichen entspringende, geschichtswirkende Kräfte hervortreten und die getroffene Prognose zunichte machen. Vergleichbar sind diese Zusammenhänge viel­leicht mit der Wettervorhersage, die, wissenschaftlich betrieben, ständig vervollkommnet wird, durch die aber eine Sonneneruption oder sonst ein außerhalb der Wetterküche ablaufender Vorgang in jedem beliebigen Moment einen Strich machen kann.

Im zweiten (übrigens unterschiedlich interpretierbaren) Teil der angeführten Aussage schränkt Engels die Schlussfolgerung von der Offenheit der Geschichte allerdings erheblich ein. Er bringt eine bewusstlos agierende, an anderer Stelle als «ökonomische Notwendigkeit» vorgestellte5 Macht ins Spiel, die als übergeordnete Kraft in den historischen Ablauf eingreift und in letzter Instanz seine Richtung bestimmt. Diese Auffassung läßt sich zweifellos, und darauf stützte sich Engels, mit einer Vielzahl geschichtlicher Beispiele belegen, doch scheint auch die ökonomische Dominanz allen Geschehens spätestens seit dem Zeitpunkt fragwürdig, an dem die (keinesfalls notwendige) Selbstvernichtung der Menschheit in den Bereich des Möglichen gerückt ist. Mögen die zur Vernichtung allen Lebens treibenden (in gewissem Umfang sogar die zur Rettung des Planeten angetretenen) Kräfte ökonomisch motiviert sein, eine sie bewußtlos lenkende Macht ist weit und breit nicht erkennbar.

Auch hinsichtlich der angeführten Engelsschen Einschränkung muß folglich die Frage gestattet sein, ob sie generell berechtigt ist. Zumindest lassen sich Indizien dafür anführen, daß nicht erst die Atombombe das Recht gibt, Zweifel an der letztendlichen Dominanz der ökonomischen Notwendigkeit anzumelden, sondern daß bereits in früheren Zeiten Triebkräfte in Erscheinung traten, die den ökonomischen Bereich überlagerten. Ein beredtes Beispiel aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts dafür ist der Stalinismus, den man wohl unbestritten als Zickzackschwenker der Geschichte bezeichnen kann und der demzufolge nach Engels kaum mit ökonomischen Notwendigkeiten zu erklären ist. Engels sagt nämlich unmissverständlich: «Je weiter das Gebiet, das wir gerade untersuchen, sich vom Ökonomischen entfernt..., desto mehr werden wir finden, daß es in seiner Entwicklung Zufälligkeiten aufweist, desto mehr im Zickzack verläuft seine Kurve».6

Wie dem auch sei, ist dem Problem des Stalinismus nicht beizukommen, wenn man, sich hinter einer ebenfalls ungenügend erforschten Erscheinung versteckend, von der Existenz einer in der Geschichte bewußtlos wirkenden, dennoch aber ausschlaggebenden Macht ausgeht. Erforderlich ist offenbar, wenigstens einige (möglichst die wichtigsten) der in den von Engels genannten Kräfteparallelogrammen aufeinandertreffenden Faktoren als unverwechselbare Konkreta ausfindig zu machen und zu untersuchen. Dazu gehören zweifelsohne auch die auf der historischen Bühne agierenden Persönlichkeiten, in unserem Fall in erster Linie Stalin, bei dem der berühmte russische Neurologe Wladimir Bechterjew bereits 1927 eine fortschreitende Paranoia diagnostizierte, was er übrigens wenige Tage später mit dem Leben bezahlen musste.

Zur Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte haben sich natürlich auch schon die Entdecker der historischen Gesetzmäßigkeiten geäußert. Der unterschiedlichen Wirkungsweise der Gesetze Rechnung tragend, konstatierten sie, daß sich gesetzmäßige Prozesse in der Natur blind (automatisch) vollziehen, in der Gesellschaft hingegen von Menschen durchgesetzt werden. Zur Beantwortung der sich daraus ergebenen Frage, warum das Handeln der subjektive Ziele verfolgenden Personen in letzter Konsequenz stets im Einklang mit den objektiven Gesetzen stehe, verwiesen sie auf die Zufälligkeit, mit deren Hilfe sich die Notwendigkeit durchsetzt. «Daß ein solcher und gerade dieser», schrieb Engels über die sogenannten großen Männer, «zu dieser bestimmten Zeit in diesem gegebenen Lande aufsteht, ist natürlich reiner Zufall. Aber streichen wir ihn weg, so ist Nachfrage da für Ersatz und dieser findet sich, tant bien que mal, aber er findet sich auf die Dauer ... Das ist bewiesen dadurch, daß der Mann sich jedesmal gefunden hat, sobald er nötig war: Cäsar, Augustus, Cromwell etc.»7

Dieser Beweis erscheint indes einigermaßen fragwürdig. Abgesehen davon, daß man sich sträubt zu behaupten, auch ein Hitler und ein Stalin seien «nötig» gewesen (für den Menschheitsfortschritt? zur Durchsetzung der bewußtlosen Notwendigkeit?), bleibt unergründbar, ob nicht andere Personen anstelle von Cäsar, Augustus oder Cromwell anderen Einflüssen erlegen wären, andere Entscheidungen getroffen, andere Fehler gemacht und damit andere Entwicklungen in Gang gebracht hätten. Doch deutet der von Engels geäußerte Gedanke offenbar insofern in die richtige Richtung, als Veranlagung, Werdegang, Erfahrung, Lern- und Wandlungsfähigkeit einer einzelnen Person, wenn man sie in Bezug zu den Kausalketten setzt, die das Geschehen vorformen und prägen, immer nur Zufallsfaktoren bleiben können. Charakter und Eigenschaften einer Person sind, wie die geschichtliche Erfahrung tausendfach beweist, außerstande, alle ande­ren am gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß beteiligten Kräfte aufzu­wiegen. Sie können diese Kräfte lediglich nutzen oder mißbrauchen, ihre Entfaltung beschleunigen oder hemmen. Eine Stalinismusanalyse, die nur die individuellen Eigenheiten Stalins in Betracht zöge, wäre verfehlt und unbrauchbar.

Zu Beginn einer solchen Analyse muß die Person des Diktators sogar gänzlich ausgespart bleiben, weil es erst einmal gilt, jene objektiven Gegebenheiten sowie jene an diesen Gegebenheiten rüttelnden Kräfte herauszufinden, die, schon lange vor dem Auftauchen des Alleinherrschers vorhanden, dessen späteren Aufstieg begünstigten. Die Beschäftigung mit und die Konzentration auf solche Begünstigungsfaktoren darf jedoch nicht vergessen machen, daß es während des Heranreifens des behandelten Phänomens immer auch gegenläufige Tendenzen und Kräfte gab und gibt. Wenn beispielsweise nachgewiesen werden kann, daß bereits lange vor Stalin soziale Strukturen und Denkansätze existierten, die dem nachmaligen Stalinismus den Weg ebneten, so bedeutet dies keinesfalls, daß das Sozialgefüge oder die revolutionäre Theorie nicht auch Elemente enthielten, die zu nichtstalinistischen Lösungen gedrängt hätten.

Bei der Suche nach den Wurzeln des Stalinismus stellt sich der Historiker jedoch nicht die Aufgabe, die Bedeutung der nicht zum Tragen gekommenen Potenzen im Vorfeld der verhängnisvollen Entwicklung herauszuarbeiten, sich widersprechende Zitate ein und desselben Autors gegeneinander abzuwägen oder darüber zu spekulieren, in welcher Weise die Visionen von freien Assoziationen der Werktätigen oder von großen Initiativen der Arbeiter hätten realisiert werden können. Sein Anliegen besteht vielmehr darin, den Anfängen des zur Wirklichkeit Gewordenen im Gestrüpp der Vergangenheit nachzuspüren.

* * *

  

 1   Immerhin wurde aus der Mitte der Delegierten ein Zettel mit der Frage «Warum habt Ihr zu alledem geschwiegen?» zum Rednerpult hinaufgereicht. Chrustschow verlas das Papier und fragte anschließend, wer es geschrieben habe. Als sich niemand meldete, sagte er: «Aus eben diesem Grunde haben wir geschwiegen».

2   ZK-Beschluß «Über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen» vom 30. 6. 1956, in: SED und Stalinismus. Dokumente aus dem Jahre 1956, Berlin 1990, S. 90.

3   Brief an Joseph Bloch, 21.9. 1890, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin 1955 ff. (MEW), Bd. 37, S. 464.

4   Engels sagt: «Wir machen unsere Geschichte selbst, aber... unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden» (ebenda).

5   Vgl. u. a. das vorstehende Zitat sowie den Brief an W. Borgius, 25. 1. 1894, in: ebenda, Bd. 39, S. 206.

6   Ebenda, S. 207.

7 Ebenda.