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PERSONAL- AKTE

Wladimir Krjutschkow

 

 

Arbeitsübersetzung

Originaltitel: Личное дело. — М.: Изд-во Эксмо, 2003. — 480 с;

ISBN 5-699-01995-2

МОСКВА ; «ЭКСМО». «АЛГОРИТМ-КНИГА» 2003 год

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Vorwort des Verlages :

 

 Der frühere Vorsitzende des KGB der UdSSR, Mitglied des Politbüros des ZK der KPdSU teilt auf den Seiten dieses Buches mit uns Erinnerungen über sein Leben, über besonders wichtige historischen Ereignisse, deren Zeuge oder unmittelbar Beteiligter er war. Der Autor bemüht sich um eine Analyse der Ursachen eines einst so mächtigen Staates , charakterisiert bedeutende Akteure aus der politischen Elite der Sowjetunion, sowie viele Führer anderer Staaten der Welt , Personen wie L. Breshnew; Ju. Andropow , M. Gorbatschow, E. Honecker , F. Kastro

Die Gesamtidee des Buches und viele seiner Seiten wurden in einer Zelle des traurig bekannten Gefängnisses „Matrosen- Stille“ («Матросская тишина»),   geboren, wo sich der  Vorsitzende des KGB der UdSSR, Mitglied des Politbüros des ZK der KPdSU W. A, Krjutschkow nach den Augustereignissen von 1991 wiederfand. Der Buchautor ist Träger vieler Staatsgeheimnisse, beginnend ab Mitte der 50-er Jahre, ab den Ereignissen in Ungarn, wo er unter Leitung von Ju.W. Andropow tätig  war und bis zu den letzten Tagen der Existenz der der Sowjetunion, als eine Gruppe hochrangiger Verantwortungsträger versuchte, den Zerfall eines der mächtigsten Staaten der Erde zu verhindern.

Anmerkung zur Übersetzung:[1]

 

Dieses Buch beleuchtet u.a. speziell die Ereignisse in der UdSSR im Zeitraum der letzten Jahre, die zu deren Zerfall führten. Es besitzt daher dank vieler Fakten und einer ehrlichen Darstellung  auch heute- 2016-  eine außerordentliche politische Brisanz.

W.A.Krjutschkow war im August 1991 Mitglied des „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“  (ГКЧП; GKTchP), in wichtigen Angelegenheiten deren ideeler Kopf.

Wie wir aus den vorliegenden Memoiren erfahren, versuchte W.A. Krjutschkow im Verlaufe mehrerer Jahre vor 1991, über umfangreiche Erkenntnisse der sowjetischen Sicherheitsdienste zu massiven antisowjetischen Aktionen und US-Verbindungen leitender  Mitarbeiter im Kreml M.Gorbatschow „auf dem Dienstwege“ zu informieren- vergeblich. Im August 1991 war die Existenz der UdSSR hochgradig gefährdet und  W. Krjutschkow handelte als Mitglied des „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“.

Gem. Wikipedia.ru war „. dieses Staatskomitee GKTchP ein selbsternanntes Staatsorgan in der UdSSR, welches vom 18. -21.8.1991 bestand. Es wurde von hochrangigen Staatsfunktionären und Beamten der Sowjetregierung gebildet, die gegen die Reform-Politik der Perestroika Gorbatschows und dessen Pläne zur Umbildung der UdSSR in einen Bund unabhängiger Staaten auftraten.  Kräfte unter Jelzin lehnten eine Unterordnung unter das GKTchP als antikonstitutionell ab…“

Daraus entwickelte sich der „Augustputsch“ ( GKTschP ), der einen tiefen ideologischen Hintergrund besitzt und eine einschneidende Zäsur in der Geschichte des Sozialismus darstellt.

Im geschichtlichen Rückblick kristallisieren  sich heute viele Fakten zu einem Gesamtbild, welches den gesamten Zerfallsprozess in der UdSSR und die Aktionen ihrer Gegner in kalten Krieg erst wirklich deutlich werden lässt. Es ist daher umso bedauerlicher, dass der deutschsprachige Leser keine Möglichkeit hatte, dieses eindrucksvolle Buch zu lesen.

 

Wladimir Alexandrowitsch Krjutschkow ( Владимир Александрович Крючков), wurde am 29. Februar 1924 in Zarizyn (heute Wolgograd) geboren und starb am 23. November 2007 in Moskau. Die integre Persönlichkeit W. Krjutschkows ist auch heute über jeden Zweifel erhaben, er verbürgt sich im Buch dennoch ausdrücklich für dessen unfrisierten Wahrheitsgehalt..

 

Weitere Bücher: «На краю пропасти»; «Личность и власть»; «Без срока давности»


 

Gliederung:

 

Vorwort des Autors

Kapitel 1 : Der Anfang des Lebensweges

Kapitel 2 : Die Ungarn- Etappe *

Kapitel 3:  Die Jahre in der Aufklärung *

Kapitel 4 : Afghanistan *

Kapitel 5:  Perestroika : „Architekten und Vorarbeiter

Kapitel 6:  Vorsitzender des KGB der UdSSR

 

* diese Kapitel liegen nicht in deutscher Übersetzung vor, obwohl sie durchaus viele Interna aus Sicht von Krjutschlow ansprechen, die man in deutschsprachigen Quellen vergeblich sucht.

Diese Kapitel  können Sie hier im russischen Original finden.  

 


 

 

Vorwort des Autors

Sechzig Jahre eines freien, ehrlichen und durch nichts befleckten Lebens, und dann plötzlich Gefängnis! Verhaftung, Verhöre und bevorstehende Gerichtsverhandlung...   Nach der  Verhaftung kommt man nicht sofort wieder zu sich, ja kommt man überhaupt jemals wieder vollständig zu sich? Wohl kaumDas Leben, wenn man den Gefängnisaufenthalt überhaupt als Leben bezeichnen kann, verläuft in besonderen Maßstäben. Manchmal scheint es, du befindest dich in irgendeinem furchtbaren Traum! An dann endet das und du bist wieder in Freiheit, in deiner dir vertrauten Umgebung und der Traum bleibt im Gedächtnis als unangenehme Erinnerung… Aber leider lässt dich die harte Wirklichkeit nicht „aufwachen“ und du beginnst qualvoll zu verstehen, dass das Leben tatsächlich mit dir einen solch bösen Streich gespielt hat...   

In der «Matrosen-Stille» existierte für mich als erstes ein vollkommen ungewöhnliche Gefühl- das im Kern veränderte Zeitgefühl. Viele Jahre war die Zeit das fast Aller-Wertvollste, was ich hatte. Zeit reichte nie und ich bewahrte jede Minute, jede verlorene Minute tat mir echt leid. Ja, ich bedauerte das bis zur Verzweiflung. Und plötzlich hatte sich alles  verändert — als ob die Zeit zugleich stehengeblieben ist, sie zeigte sich ganz unnütz und sogar belastend. Oft ertappe ich mich dabei, dass ich beginne, Genugtuung zu empfinden, wenn endlich noch eine Stunde, der Tag oder die Nacht vergeht...  

Das Leben scheint ein um das andere Mal wie vor den Augen vorbeizuschwimmen, sogar in Farbe, und erstaunlich klar und detailliert. Im Gedächtnis erscheinen Details, die so scheint es, sich schon seit langem in der Vergangenheit für immer aufgelöst haben... Plötzlich erscheinen von irgendwo  ganze Stücke des Lebens, wieder und wieder kommen Ereignisse ins Gedächtnis, an denen man einst selbst teilnahm oder von denen man einfach Zeuge war. Im Kopf liegt ein Grab von Erinnerungen! Hier hat sich alles in einem unglaublichen Kaleidoskop vermengt—die Tatsachen aus der eigenen Biografie, der Tod der Nächsten, irgendwelche familiäre Freuden, das Studium und die Arbeit, die seltenen Treffen mit den Freunden und, natürlich, zum wiederholten Mal die Ereignisse der letzten Tage. Das Gefühl der Schuld vor Verwandten und Freunden, vor Allen, wer an uns glaubte und das Begreifen der eigenen Kraftlosigkeit, die Bitternis der ertragenen Niederlage... Und dabei immer das Streben,  von neuem gehen alle lebenswichtigen Meilensteine zu durchzugehen, noch einmal die wichtigsten Ereignisse zu durchdenken, sich die Frage darüber zu beantworten, wo jener schicksalhafte Fehler gemacht wurde, der so ganz grundlegend mein und nicht nur mein Leben geändert hat...

Dieses Buch über Erinnerungen mit der Darlegung meiner Sicht über das Geschehene und noch Geschehende zu schreiben habe ich noch in der «Matrosenstille» im September 1991 begonnen, dort hatte ich auch die erste Fassung beendet. Ich arbeitete in der Zelle, natürlich heimlich und bei schlechtem Licht, ohne dafür irgendwelche Unterlagen zu haben. Die Zellen-Nachbarn verhielten sich zu meinem Schaffen mit Verständnis und Billigung, bemühten sich nach Kräften, wenigstens bescheidene Bedingungen für die Arbeit zu schaffen, aber machten, den ungeschriebenen Gefängnisgesetzen folgend, keine Anstalten, sich mit dem Inhalt meiner Aufzeichnungen bekannt zu machen. Sie halfen, bewahrten Ruhe, verbargen meine Tätigkeit vor den Augen der Wachen, zeigten eine erstaunliche Erfindergabe und bemühten sich, für mich irgendwelche Materialien zu bekommen, gaben mir nach Treffen mit den Anwälte oder ihren Verwandten Zeitungen oder interessante Ausschnitte, oder brachten auch einfach mündlich Neuigkeiten, die nach ihrer Meinung mir nützlich sein könnten.

Der große Teil der Erinnerungen ist daher von mir aus dem Gedächtnis geschrieben. Sogar nachdem ich wieder frei war, erhielt ich keinen Zugang zu keinerlei Dokumente des Komitees für Staatssicherheit, des ZK der KPdSU oder der Regierung. Ich musste mich damit begnügen, was man aus der öffentlichen Presse schöpfen konnte. Aus diesem Grund fehlen in den Darstellungen einiger Ereignisse die genauen Daten, es gibt wenig Zitate, jedoch stelle ich das Wesen der beschriebenen Ereignisse für den Leser ohne Entstellungen dar. Dafür kann ich bürgen.

Ich erinnere mich, irgendwie habe ich im Gefängnis einige Dutzende schon fertiger Manuskript-Seiten verloren, und ich musste sie voll null wieder herstellen. Ich habe es getan und mich dabei über meine Nachlässigkeit und für diese vergebliche Arbeit geärgert, wie immer die vertane Zeit bedauernd. Nach einigen Monaten haben sich die verlorenen ärgerlichen Blätter wiedergefunden. Wie erstaunt war ich, als ich nach dem Vergleichen fast die volle Übereinstimmung der alten und von mir neu geschrieben Texte feststellte. Ich habe mich nicht nur gefreut, dass ich das Gedächtnis wieder einmal geprüft hatte, sondern auch über die Übereinstimmung der Gedanken selbst, wie es ja sein soll, wenn der Mensch die Wahrheit sagt.

Bei der Arbeit zur Druck-Vorbereitung des Buches haben mir meine ehemaligen Kollegen, Anwälte, Verwandte und nahe Freunde große Hilfe geleistet. Leider kann ich nicht ihnen allen öffentlich meine große Dankbarkeit äußern-  wegen auf der Hand liegender Gründe, aber ich glaube, dass auch eine solche Stunde schließlich kommen wird. Ich möchte herzliche Worte der Dankbarkeit meiner Frau Jekaterina Petrowna sagen, die immer an meiner Seite war, nicht nur als echter Freund, sondern auch als unschätzbarer Helfer. Ich möchte dem  ältesten Sohn Sergej Dank sagen, dessen Arbeitsfähigkeit und dessen Erfahrung  mir in dieser Arbeit sehr geholfen haben. Ich fühle mich meinen Anwälten zutiefst verpflichtet — Jurij Pawlowitsch Iwanow mit dessen in jeder Beziehung außergewöhnlicher  Persönlichkeit und Jurij Sergejewitsch Pilipenko, dessen Fähigkeiten, davon bin ich überzeugt, noch umfassend gewürdigt werden,  nicht nur von mir.

Ständig empfand ich die für mich, wenn auch auch unsichtbare, aber sehr wichtige Unterstützung, die von Tausenden und Aber-Tausenden mir unbekannter Menschen kam. Ihre Stimmen durchdrangen nicht nur die Dicke der Gefängniswände, erklangen in der Presse, Rundfunk und Fernsehen, ertönten auf Plätzen und Straßen, sondern erreichten mich in Form einer Menge von Briefen, die im endlosen Strom in «die Matrosenstille» kamen, die zu meinen Anwälten und den Verwandten gingen. Gerade diese Menschen, sowie jene, wenn sie auch ihre Gefühle nicht öffentlich äußerten, aber in der Seele ihre Unterstützung fortsetzten und uns weiter unterstützen, tragen diesen stolzen Namen "das Volk"; der Sache des Dienstes für das Volk habe ich vollständig mein ganzes Leben gewidmet!

Ich betrachte es nicht für erforderlich, etwas grundsätzlich im vor fünf Jahren geschriebenen Vorwort zur zweibändigen Ausgabe zu ändern, so kann ich doch über jene inneren und äußeren Umstände nicht schweigen, die in letzter Zeit vor sich gehen, die ich aber während der Arbeit an der neuen Ausgabe des Buches nicht berücksichtigen konnte.

Erstens ist der ehemalige Präsident Russlands B.Jelzin von der offiziellen politischen Arena abgetreten. Und obwohl er sich noch nicht in der Späre der politischen Bedeutungslosigkeit befindet (..в рамках политического небытия), so kann man nichtsdestoweniger behaupten, dass zu Ende 1999 die Periode der tragischen, finsteren, zerstörerischen Regierung dieser Persönlichkeit geendet hat und eine neue Etappe im Leben Russlands begann.

Über die Rolle B.Jelzins in der Geschichte unseres Landes wird man erst objektiv sprechen können, nachdem nach Jahren die ganze Wahrheit über das "Werk" und das "Schaffen" dieses Menschen an die Öffentlichkeit gelangt ist.

Zusammen mit Jelzin wird auch der erste Präsident der Sowjetunion M.Gorbatschow einen Schandplatz einnehmen. Bis in die letzte Zeit fanden bei uns im Land und im Ausland (vorzugsweise unter naiven Menschen) Dispute darüber statt, ob die Handlungen und die Politik Gorbatschows zur Zerstörung der Sowjetunion durch zufällige oder durch zwangsläufige Umstände entstandener Abläufe geprägt waren und nicht absichtlich und rational bewusst inszeniert wurden. Die Antwort auf diese nicht unwesentliche Frage hat Gorbatschow im August 2000, auf dem Seminar an der Amerikanischen Universität in der Türkei gegeben, wo er direkt erklärte: « Ziel meines Lebens war es, den Kommunismus, diese unerträgliche Diktatur über die Menschen, zu vernichten». (Zeitung «Sowjetisches Russland» von 19.08.2000).

Mit diesem Interview hat sich Gorbatschow endgültig selbst entlarvt als der  unbestrittene Verräter jener vieler Millionen Menschen, die hinter ihm standen, die an sein Geschwätz über den Kommunismus und den Sozialismus glaubten. Auch die abstoßende Rolle der nächsten Mittäter   — A.Jakowlew und E.Schewardnadse ist deutlich sichtbar. Feige wird versucht, die Schuld für den Untergang der UdSSR vollständig auf Jelzin abzuwälzen. Übrigens hörte er (d.h. Gorbatschow) auch zehn Jahre danach nicht auf zu schreien, dass das GKTchPГКЧП [2] ») die Sowjetunion zerstört habe.

 

Zweitens erschien Ende 1999 - Anfang 2000 auf russischem staatlichem Olymp eine neue politische Figur — Wladimir Wladimirowitsch Putin. Die Wahl W. Putins zum Präsidenten der Russischen Föderation wurde nicht nur positiv von denen aufgenommen, die für ihn abgestimmt hatten, sondern von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung des Landes. Die Menschen, einschließlich der linken und der rechten Wählerschaft, verbanden und verbinden mit seinem Machtantritt große Hoffnungen.

Wie auch immer, Eines ist ein schon jetzt offenbar: der neue Präsident ist in jeder Beziehung besser als der vorhergehende (eigentlich ist es schwierig sich einen schlechteren als Jelzin vorzustellen). Eine andere Sache ist es, wie sich diese Hoffnungen der Menschen erfüllen werden...

Man muss davon ausgehen, dass die Rudimente der Politik der Jelzin- Periode, die auf die Zerstörung von allem und jedem gerichtet waren, keine schnelle Überwindung der tiefsten Krise erwarten lassen, in der sich das zerstörte  Russland erwiesen hat. Umso mehr, als die inneren und äußerlichen Bedrohungen für das Land erhalten bleiben. Was die inneren Drohungen angeht, so ist die wesentlichste von ihnen die katastrophale Lage in der einheimischen Produktion. Die Hauptquelle der Erwirtschaftung der lebenswichtigen Ressourcen des Staates arbeiten nicht. Die Rechnung allein auf die  Marktmechanismen — ist ein extrem grober Fehler. Kein hochentwickelter kapitalistischer Staat weder in der Vergangenheit, noch heute, befreite sich von  Krisenerscheinungen ohne eine bestimmende (regulierende)  Rolle der staatlichen Institute. Russland, dessen Wirtschaft bis in allerjüngste Zeit  fast vollständig staatlich war, kann nicht ausschließlich mit dem Markt rechnen. Eine solche Politik wird von neuen Krisenausbrüchen begleitet werden, die das weiter verschärfen, was die Gesellschaft und das Land zerstört.

Was die äußerlichen Bedrohungen betrifft, so bleiben sie leider erhalten und werden außerdem noch augenscheinlicher (Relief-artiger). Die republikanische Partei der USA, hat im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2000 absolut deutlich erklärt:

«die Republikaner sind eine Partei, die für die Welt von der Position der Stärke auftritt».

 An einer solchen Politik halten auch die amerikanischen Demokraten fest. Sowohl diese als auch die anderen erklären, dass die erreichte Führungsposition der USA in der Welt von den Amerikanern auch weiterhin mit allen verfügbaren Mitteln gewährleistet wird. Für uns ist eine dertige Lage eine unbarmherzige Realität. Wenn Russland diese Realität ignorieren wird, so wird die Zeit kommen, wo sich Unverletzbarkeit unseres Staates in Gefahr sein wird.

W.W. Putin als dem Präsidenten der Russischen Föderation wurde ein kompliziertes Erbe überlassen. Das Volk ist von den Belastungen der Jelzin-Regierung ermüdet, mit Hoffnung und besseren Erwartungen hat es die Übernahme des höchsten staatlichen Postens des Russischen Staates durch Wladimir Wladimirowitsch aufgenommen. W. Putin unterscheidet sich vom vorhergehenden russischen Präsidenten vorteilhaft. Seine viele Erklärungen, durchdrungen vom Schmerz für die Lage im Land, die Art seines Auftretens, der Kontakt mit den Menschen, ja einfach seine Menschlichkeit, nicht zu reden von seiner gewaltigen Arbeitsfähigkeit, imponieren den russischen Staatsbürgern, worüber die hohen Umfragewerte W. Putins während seiner gesamtem Amtszeit als Staatsoberhaupt zeugen.

Jedoch - die Zeit vergeht und die Vertrauenswerte können schmelzen, mit allen sich daraus ableitenden Folgen. Die Menschen verstehen, dass man nicht alles sofort korrigieren kann, aber in einigen Richtungen erwartet man von ihm der großer Ungeduld entschlossene Handlungen zur Herstellung der Ordnung im Land. Man kann solche Richtungen nennen, wie den Kampf gegen Korruption, das Abfließen von Kapital ins Ausland, höhere Wachstumsraten der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion, die Verbesserung des Lebens der Menschen und andere Probleme, die vor aller Augen und Ohren stehen, aber bisher von  keinen bemerkenswerten Fortschritten begleitet werden.

Bei der Vorbereitung der vorliegenden  Ausgabe hat der Autor, in Anbetracht des Interesses der Leser, den Text die Charakteristiken von drei Präsidenten der USA — J.Carters, R. Reagans und Bush‘s ergänzt. Gerade unter ihnen vollzogen sich die Ereignisse, die mit der Sowjetunion und später Russland in der beschriebenen Periode verbunden sind. Das Buch wurde auch mit Überlegungen über die führenden Figuren des US-amerikanischen politischen Establishments  jener Zeit — Kissinger und Z. Brzeziński ergänzt. Außerdem ist in diese Ausgabe zusätzliches Material zu den letzten Monaten des Lebens J.Andropows, Informationen über einige Politiker der sowjetischen und nachsowjetischen Periode, sowie gesonderte Ergänzungen und Präzisierungen der schon früher beschriebenen Ereignisse aufgenommen.

Eine Reihe von Vorhersagen, die der Autor der " Personal-Akte" gemacht hatte, mussten korrigiert werden: leider entwickelten bzw. entwickeln sich die Ereignisse nach der schlechtesten Variante, als man früher vermuten konnte.

Die Gelegenheit nutzend, dankt der Autor den Lesern, die Rezensionen über das Buch schickten, meine Position unterstützend und die ihre Urteile über die tragischen Ereignisse mitteilten, die über unser Vaterland in den letzten Jahre hereinbrachen. 1995-2002

 

Kapitel 1 : DER ANFANG DES LEBENSWEGS

In der Zeit vor dem Gefängnis, als auch in den anderthalb Jahren, die ich in der Zelle verbrachte, verging kein Tag, an dem vor mir in der einen oder anderen Weise das Antlitz meines Vaters auftauchte. Die reinen Kinderbilder wechselten mit Erinnerung an lange Gespräche ersetzt, in deren Lauf ich in Gedanken oft beim Vater Rat und Unterstützung suchte.

Mein Vater, Krjutschkow Alexander Jefimowitsch, wurde am 19. November 1889 in der Stadt Zarizyn — dann Stalingrad, heutzutage Wolgograd — in der Familie eines Kessel-Arbeiters geboren. Wir lebten in der großen Familie arm, aber wegen unserer Liebe zur Arbeit waren wir satt, eher schlecht als recht, hatten Schuhe und Kleidung. Lebten mal in einer Erdhütte, mal in einem Häuschen am Ende der Stadt, wo wir einen kleinen Winkel mieteten. Nur mit der Zeit gelang es den Eltern des Vaters, ein winziges aus gestampftem Lehm und halb in die Erde gebautes Haus zu erwerben, das anfänglich sogar nicht mal einen den hölzernen Fußboden hatte. Erst viele Jahre später bauten wir zu diesem Einzimmerbau, der innen nur von symbolischen Trennwänden geteilt war, einen Schuppen und haben noch ein Fensterchen durchgehauen. So wurde diese zur Hälfte Erdhütte allmählich zu  etwas, was entfernt  einem  Wohnhaus ähnlich war. Darin hat mein Großvater mit der Großmutter bis zum Ende ihrer Tage gewohnt. Ich möchte ein wenig von ihnen erzählen.

Der Großvater, Jefim Nikolajewitsch Krjutschkow, arbeitete auf der Erdöl- Station des  schwedischen Kapitalisten Nobel, zuerst als einfacher Arbeiter, und dann als Schreiber. Er hat selbst gelernt zu lesen und zu schreiben, wobei er ziemlich gewandt, sachkundig und einer schönen Handschrift schrieb. Auf Bitte der Arbeiter schrieb Großvater jede Art von Briefen, des Anträge und des Bittbriefe, kostenlos. Diese Schriftkunde, der weiche und teilnahmsvolle Charakter wandte sich eines schönen Tages, wie es in Russland so passiert, für Großvater zu einem großen Unglück. Und die Geschichte ist dies.

 

Das Leben eines Arbeiters war zu jenen Zeiten äußerst schwer. Arbeiteten auf Verschleiß, schleiften ihre Beine kaum bis zum Samstagslohn, und danach gingen sie in die Kneipe, um sich von den alltäglichen Lasten irgendwie abzulenken. Am Sonntag kamen sie zu sich, sodass sie sich am  Montag wieder sich in die Sielen spannen konnten. So vergingen die Wochen, die Monate, die Jahre. Klar, dass sich das Alter und Krankheiten unter solchen Bedingungen nicht lange auf sich warten lässt. Und mit ihnen verlor der Mensch unvermeidlich die Arbeit, und war auf eine halbhungrige Existenz verdammt, wenn nicht schlechter. Gut für den, wer fleißige Kinder hat, die helfen können, und was bleibt den anderen  übrig? Also hatte sich Großvater irgendwie entschieden, einigen armen Schluckern zu helfen, die von der Arbeit wegen Krankheit entlassen worden waren.  Das war im Zusammenhang damit,  dass der Grund ihrer Arbeitsunfähigkeit eine Havarie im Betrieb war.  Mein Großvater setzte im Namen der Verunglückten ein Bittgesuch auf, aber nicht an irgendjemandem, sondern an den Zaren.  Die Antwort war negativ, im Übrigen hatte man mit einer anderen Reaktion auch nicht besonders gerechnet.

Die erhaltene Absage verdammte die armen Schluckern endgültig zu einem  halbhungrigen Leben und langsamen Sterben. Dieser Umstand hatte Großvater zu einem verzweifelten Schritt getrieben: er hat den Text des Antwortbriefes geschickt gefälscht, den Unternehmer verpflichtet, dem Betroffenen eine einmalige Unterstützung auszuzahlen und eine Rente für die verursachte Verstümmelung festzulegen. Schließlich wurde die Fälschung jedoch entdeckt geöffnet, im Ergebnis wurde Großvater der Laufpass gegeben und sogar haben auf irgendwelche Zeit verhaftet. Aber den verunglückten Arbeiter wurde die mit solchem Risiko «erbetene» Unterstützung nicht entzogen, so dass nur mein Großvater deshalb gelitten hat. Er hatte auch früher schon ein krankes Herz und diese Geschichte hat ihm danach gar den Todesstoß gegeben: ein Jahr später, 1910, wurde er nach einem Herzschlag tot auf der Straße gefunden.

Die Großmutter — Krjutschkowa Lydia Jakowlewna — war in jeder Beziehung  ein herausragender Mensch. Sie war Deutsche von Nationalität, aber tief russisch gemäß ihrer Erziehung, dem Geist und der Denk-Weise. Und Großmutter betonte immer mit unveränderlichem Stolz, dass sie Russin ist, mochte die russische Kultur, verhielt sich mit  Verehrung und sogar einer bestimmten  Ehrfurcht zur Geschichte unseres Volkes. Ihre Eltern waren Wolga- Deutsche, deren Vorfahren noch unter Katharina II. nach  Russland gekommen sind und die sich in Zarizyn niedergelassen hatten. Mit der Zeit sind sie total russisch geworden, und ihre Nachkommen sind auch auf Jahrhunderte in Russland geblieben, vorzugsweise an gleichen Stellen.

Großmutter hat das Berufsleben früh, mit 16 Jahren begonnen. Sie war Arbeiterin und wusch  Erdölprodukte von den Zisternen ab. Diese Arbeit war k schwer und äußerst schädlich, aber für sie zahlte man befriedigend. Für lange Zeit hielt die  Gesundheit jedoch nicht durch, so dass sie die vorige Stelle abgeben musste und an anderen Stellen — als Wächter, Näherin in einer Werkstatt dazuverdienen musste.

So wie auch ihr Mannhatte Lydia Jakowlewna die Schreibkunde selbst erlernt und sehr las gern.

Als sie 1870 meinen Großvater heiratete, hat sich die Großmutter nicht nur vom Mädchennamen Schrajner, sondern auch überhaupt von allem Deutschen getrennt. Die nationalen Striche des Charakters, solche wie die Sparsamkeit, Genauigkeit und die Pünktlichkeit, wurden bei ihr wohl nur im Alltagsleben deutlich. Im übrigen Umgang, einschließlich in der Gestalt,  war sie eine typisch russische Frau. Obwohl Großmutter das Deutsche beherrschte, bemühte sie sich, das  niemals vor mir zu sprechen, sogar für jene Fälle nicht zu benutzen, wenn sie die in der Nachbarschaft lebenden deutschen Freundinnen besuchten.

Ich wollte sehr deutsch lernen bat sie nicht nur einmal, mir darin zu helfen, aber sie lehnte ständig ab und sagte immer abwehrend: «das ist nicht notwendig, das brauchst du nicht". Bis jetzt verstehe ich nicht, warum sie sich meinen Bitten so hartnäckig widersetzte und gelang es in dieser Hinsicht nicht dafür einer Erklärung zu bekommen. Es ist sehr gut möglich, dass Großmutter mich vor irgendwelchen Unannehmlichkeiten bewahren wollte, umso mehr, als das in den 1930 Jahren war und die Welle der Repressalien schon nach rechts und nach links sowohl der Russen, als auch der Deutschen niedermähte, wobei es die Letzteren ohne Ausnahme traf. Wenn ich auch mit dem Deutsch kein Glück hatte, so ich habe doch viel von Großmutter gelernt. Überhaupt verbanden uns mit ihr sehr innige Beziehungen, sie bevorzugte mich vor allen anderen Enkeln und aus irgendeinem Grunde sagte sie von Kindheit an eine große Zukunft voraus...

Meine Großmutter war ein tief gläubiger Mensch, und ich traf sie oft über eine altertümliche Bibel gebeugt an, die in  gotischer Schrift gedruckt war. Sie las hörbar, aber so leise, dass es unmöglich war die Wörter zu verstehen. Entsprechend ihrem Testament haben wir Großmutter mit dieser Bibel auch begraben. Sie ist 1938 gestorben, den Ehemann hatte sie um vieles überlebt. Es war der erste Tod eines mir sehr teuren Menschen vor meinen Augen...

Die Nationalität meiner Großmutter hat sich in keiner Weise auf das „Russisch-Sein“  unserer ganzen Familie ausgewirkt, vielleicht gerade deshalb, weil sie selbst es so nicht wollte. Während des Großen Vaterländischen Krieges haben meine Deutsche- Verwandten das schwere Schicksal der russischen Menschen geteilt, viele haben durch die faschistischen Besatzer grausam gelitten und einige haben mit dem Leben bezahlt. Der Mann meiner Tante, der Tochter von Lydia Jakowlewna , war auch Deutscher, und ihr Sohn Iwan Schulz, ein Jagdflieger, ist in den ersten Tagen des Großen Vaterländischen Krieges in Lettland umgekommen, besiegt in einem ungleichen Luftkampf. Die Tante wurde zusammen mit ihrem Mann gewaltsam nach Deutschland deportiert. Dort wurden sie grausam behandelt und gequält und nur durch irgendein Wunder blieben sie am Leben. Wahrscheinlich habe ich  gerade von ihnen die schlimmsten Schilderungen über die deutschen Besatzer gehört.

Nach dem Tod der Großmutter war mein Vater in der großen Familie der Älteste. Zu dieser Zeit war er bereits Chef einer Abteilung im Stalingrader Werk  "Barrikade", in dem er übrigens seit seinem neunten Lebensjahr arbeitete. Er begann damit, dass er Kesselarbeitern half, brachte Material und Werkzeug und lief einfach in den Geschäft hinter den Lebensmitteln für die Arbeiter her. Aber schon mit elf Jahre führte Vater wenn auch nicht komplizierte, aber doch selbständige Arbeiten aus und ab dem Alter von  15 Jahren arbeitete er genau wie die Erwachsenen, bekam dafür aber viel weniger Lohn.

Sein gesamtes Leben widmete Vater dem geliebten Betrieb, wenn auch in verschiedenen Funktionen, so beschäftigte er sich doch immer mit dem Kesselbau.  Manchmal fuhr er zusammen mit anderen Genossen aus der Genossenschaft auf kurze Zeit weg, um zusätzlich Geld zu verdienen und die Familie zu ernähren, aber das war damals eine übliche Erscheinung , denn ein Gehalt reichte niemals aus. Durch solche Fahrten konnte man nicht nur zuverdienen, sondern auch das Land kennenlernen, was in jener Zeit auf andere Weise unmöglich war.

Ich erinnere mich bis heute an die Erzählungen des Vaters an diese "Reisen". Er sprach nicht nur darüber, was im Kaukasus, der Ukraine oder in Mittelasien sah, sondern auch über die Menschen, mit denen er dort zusammengetroffen war. Gerade mein Vater hat mir von Kindheit an das Gefühl der Achtung der Menschen anderer Nationalität eingeimpft, das ich fürs ganze Leben erhalten habe. Ich denke jetzt oft darüber nach, dass der Vater und überhaupt die Menschen seiner Generation gesagt hätten, wenn ihnen das Schicksal zuteil geworden wäre zu sehen, was man heute aus unserer  multinationalen Heimat gemacht hat, in der alle sie besiedelnden Völker wie in einer Familie lebten.

In den Jahren des Bürgerkrieges kämpfte Vater für die Sowjet- Macht, ist durch die harte Prüfungen gegangen. Einmal wurde er von den Weißen gefasst und durch ein Wunder ist er die Erschießung entkommen und in der Nacht vor der Hinrichtung zusammen mit einer Gruppe Rotarmisten eine gewagte nächtliche Flucht unternommen. Lebenslang ging Vater im Gleichschritt mit der Sowjetmacht. 1924 trat er nach dem Tode W.I.Lenins im Rahmen des Lenin- Aufgebots in die Partei ein. Ich erinnere mich, der Vater sich positiv über die „NÖP“ [3](НЭП) äußerte, er hielt einen solchen Schritt Lenins für eine sehr weise Lösung, die das Leben des Volkes tatsächlich erleichterte. Freilich, sagte er, weiß Gott, woher plötzlich die vielen im Luxus versinkenden Reichen kommen. Aber die Sowjetmacht gab ihnen keine allzu großen Möglichkeiten und das Wichtigste, sie ließ nicht zu, sich auf  Kosten des einfachen Volkes zu bereichern.

Die Wirtschaft des im Verlauf des Bürgerkrieges ausgebluteten Landes erhielt so die notwendige Unterstützung, die Lage mit Industriegütern verbesserte sich  merklich, das Dorf begann freier zu atmen, was sich ja dann direkt auf dem Lebensmittelmarkt zeigte.

Nach der Einleitung der NÖP hat das Leben allmählich begonnen, sich zu verbessern, es entstand auch ein gewisser Wohlstand in unserer Familie. Der Vater fuhr jetzt seltener zum Dazuverdienen weg  und auch in seinem  Betrieb ging die Sache bergauf. Bald wurde er Meister und Anfang der dreißiger Jahre wurde er zum Vorgesetzten der Kesselbau- Abteilung des Betriebs « Barrikade » ernannt.

1928 haben die Eltern neben der Kate der Großmutter ein kleines Holzhaus gebaut. Darin haben wir bis zum September 1942 gewohnt, aber im Krieg ist das Haus nicht heil geblieben, es ist während eines faschistischen Bombenangriffes niedergebrannt.

Die 30-er Jahre sind mir, damals noch als Kind im Gedächtnis geblieben, dass Vater sehr viel arbeitete, nach Hause kam er spät, und am Morgen, kaum begann es hell zu werden, ging er wieder in den Betrieb. Er erholte sich nur an den Sonntagen  und das auch nicht jede Woche. Aber Klagen vom Vater habe weder ich, noch die Mutter jemals gehört. An den seltenen Feiertagen versammelten sich im Haus die Freunde des Vaters. Das Gespräch verlief immer  über den Betrieb, über das Land, das Thema des Krieges wurde immer häufiger berührt — und sie sprachen darüber wie über etwas Unvermeidliches. Niemand zweifelte daran, dass es Krieg geben wird, aber auch niemand bezweifelte den Sieg.

In unserer kleinen Straße lebten einige Jungs im Einberufungsalter. Auch meine Eltern waren an der Reihe, ihre Söhne in die Armee zu- einer von ihnen wurde Jagdflieger, ein anderer -Seemann. Meine drei Cousins dienten schon: einer in der Luftwaffe, ein anderer war Panzersoldat, der Dritten - Infanterist. Der Dienst der Söhne in der Armee war Gegenstand eines  besonderen Stolzes der Eltern, obwohl, wie ich mich erinnere, die Mutter oft nächtelang weinte — offenbar ahnte das mütterliche Herz den baldigen Tod der Söhne im bevorstehenden Krieg.

1937 begannen die Verhaftungen, sie machten auch nicht vor unserer Straße halt. Plötzlich verschwand jemand von den Nachbarn und nach einer bestimmten Zeit gab es Gerüchte,  dass er sich als « Feind des Volkes» erwiesen hat. Ich erinnere mich, nur zwei von ihnen gelang es zurückzukommen, im Grunde genommen "von jener Welt ». Einer war schon sehr krank und starb bald (nur viel Jahre später habe ich erfahren, dass er in Wirklichkeit sein Leben mit einem Freitod beendete).

Natürlich stellte niemand öffentlich die Handlungen der Behörden unter Zweifel und umso weniger verband niemand diese Ereignisse mit dem Namen Stalins - darüber konnte überhaupt nicht die Rede sein. Zugleich beeilten sich aber die früheren Freunde auch nicht, den ins Unglück geratenen Nachbarn etwa zu verdammen, sie versuchten nicht, sich von ihm schnell zu distanzieren, die Verhaftungen riefen das Gefühl des Mitleides und Unverständnisses  herbei.

Einmal hat die trübe Welle der Repressalien auch unsere Familie beinahe überrollt. Vater kam unerwartet früh von Arbeit, noch vor dem Mittagessen. Ich habe zuerst nachgedacht, dass er krank geworden ist. Der Grund war jedoch ganz anders. Als Vater am Morgen wie üblich die Arbeit ging, liest man ihn plötzlich nicht in den Betrieb, er wurde an der Eingangspforte aufgehalten. Unter dem Vorwand, dass es  notwendig sei etwas zu klären, hatte man ihn zunächst gebeten etwas zu warten und später, etwa zwei Stunde später wurde ihm erklärt, dass er frei sei und man hat ihn nach Hause entlassen. Wann er wieder zur Arbeit kommen soll, versprach man ihm später mitzuteilen.

Am selben Tag wurde die Verhaftung des Direktors und einiger anderer Leiter des Betriebs "Barrikade" bekannt... Im Haus verbreitete sich die Vorahnung eines  furchtbaren Unglücks. Zum Glück für unsere Familie ist damals alles günstig ausgegangen. Nach ein paar Tagen wurde  Vater wider in den Betrieb gerufen, und er begann wieder, am alten Platz als  Abteilungsleiter zu arbeiten. Jemand hat dem Vater später erzählt, dass die tadellose Biografie und der Dienst der Söhne in der Armee ihn gerettet hatten. Der Vater sagte damals  etwas, was ich mir fürs ganze Leben gemerkt habe: «Hängt es etwa von der Biografie ab, ob ein Mensch schuldig ist oder nicht?»

Ungeachtet der Repressalien, im Land wurde im ungeahnten Tempo der sozialistische Aufbau verwirklicht, dessen Maßstäbe jede Vorstellungskraft übertrifft.  Das geschah hauptsächlich wegen der Selbstaufopferung der sowjetischen Menschen, ihrer angestrengten und sie erschöpfenden Arbeit. Einen anderen Ausweg gab es ja auch nicht. Auf Hilfe konnte man von nirgendwo hoffen, deshalb musste man sich nur auf die eigenen Kräfte verlassen. Es rettete uns nicht nur die natürliche Zähigkeit des russischen Menschen, seine Anspruchslosigkeit, die Fähigkeit zur Selbstaufopferung, sondern auch der tiefe Glaube an den Sieg der kommunistischen Idee, die Erwartung einer hellen Zukunft, die schon nicht mehr hinter den Bergen schien.[4]

Gewaltige Veränderungen geschahen auf sozialem Gebiet, es fand eine echte Kultur- Revolution statt. In kürzester Frist gelang es überall, das Analphabetentum zu liquidieren— alle lernten, ob alt, ob jung. Für die betagten  Leute wurden Abend- Schulen, Kurse, Lernzirkel in Klubs, oder auch direkt in den Wohnungen organisiert. Es gab mobile Bibliotheken.

In unserer Straße waren nur zwei oder einige betagte Frauen und ein Alter der in jene Zeit schon für neunzig überschritten hat, nicht vom Lernen erfasst, Es gab kein Kind älter als sieben Jahre, das nicht in die Schule gegangen wäre. Jede Familie abonnierte eine Zeitung oder Zeitschrift, und sie tauschten sich noch mit den Nachbarn über das Gelesene aus.

Im Bezirk, wo wir lebten, wurde noch 1934 eine elektrische Leitung verlegt, und bald danach wurden in den Häusern auch Radio- Anschlüsse gelegt. Mitte der dreißiger Jahre kamen bei uns die ersten Absolventen der einheimischen Hochschulen zurück - eigene Ingenieure, Ärzte, Lehrer, Landwirte und sogar ein Geologe. Bis zur Unkenntlichkeit hatten sich Einwohner der Randgebiete Stalingrads und der Mehrheit der übrigen Stadtbewohner verändert.

Es war unglaublich, dass sich das noch gestern in der Masse das ungebildeten Arbeitervolkes eingezwängte Volk zur Kunst strebte —die Menschen fingen an, ins Theater, Kino, in Konzerte zu gehen, Ausstellungen und Museen zu besuchen, am Laienkunstschaffen teilzunehmen.

An einem heißen Sonntag, dem 22. Juni (1941) hatte  sich mein langgehegter Traum erfüllt: die Eltern waren auf den Markt im Begriff, mir ein Fahrrad zu kaufen. Lange wählten sie, verglichen und fanden schließlich die passende Variante - es blieb nur zu bezahlen.

Gerade in diesem Moment begann der Lautsprecher zu arbeiten, der auf einem Laternenpfahl hing. Zu Beginn wurde erklärt, dass jetzt eine wichtige Mitteilung gesendet werden wird werden. Alle waren sofort sehr still. Dann erklang die Stimme Wjatscheslaw Michajlowitschs Molotows - Deutschland hat verräterischen die Sowjetunion überfallen, es gab die ersten Bombenangriffe auf sowjetische Städte, an der Grenze wird gekämpft. Zum Schluss hat Molotow die Worte gesagt, die später durch die ganze Welt gingen: «Unsere Sache ist gerecht. Der Feind wird zerschlagen. Der Sieg wird unser sein

Vom Kauf des Fahrrads konnte natürlich keine Rede mehr sein. Die Menschen auf dem Markt beendeten eilig ihre Dinge verliesen den Platz. Auch wir eilten nach Hause. Wir schwiegen, jeder mi seinen Gedanken beladen. Zuhause empfing man uns mit Tränen. Obwohl wir seit langem schon vom Krieg wie über etwas Unvermeidliches gesprochen hatten, im Innersten hatten wir immer noch auf Irgend-Etwas, wir  dachten- hoffentlich passiert  nichts?

Als sich die Nachricht über den Krieg in der ganzen Stadt verbreitete, sind alle zu ihren Familien geeilt, aber am Abend wollte man im Gegenteil unter  Menschen zusammen sein- buchstäblich die ganze Stadt war auf den Straßen. Von Verwirrung und umso mehr von Panik war nichts zu merken. Die Leute waren ernst, aber ruhig, viele haben sich sofort entschieden, an die Front zu gehen. Alle meinten, dass der Krieg nicht lange dauern wird, ja, sie  waren darin besonders überzeugt, dass wir den Feind keinesfalls auf unser Territorium lassen werden. Wir wurden doch im Geiste der Unbesiegbarkeit erzogen.

Über das Radio wurde inzwischen eine  Verordnung nach der anderen verbreitet. Wir warteten auf die Frontberichte, und sie kamen — einer furchtbarer als  der andere. Aber da hoffte man noch,  dass sich die Lage an der Front schnell verbessern würde. Niemand vermutete, dass man ganze vier Jahre kämpfen muss, dass der Krieg bis nach Stalingrad rollen wird und es vollständig zerstören wird, dass er für das Land solch riesigen Opfern bringen wird...

Anfang Juli 1941 erhielt unsere Familie als  erste auf unserer Straße die Todesnachricht vom Tode meines Bruders Konstantin. Uns wurde mitgeteilt, dass er am 25. Juni 1941 in Lettland im Raum der Stadt Daugavpils tödlich verletzt wurde und dort begraben wurde. Der Bruder war Teilnehmer des finnischen Krieges, dort kämpfte er ebenfalls als Jagdflieger wurde mit einer hohen Auszeichnung - dem Orden des Roten Sternes geehrt. Er war ein Liebling der ganzen Familie, ein Menschen mit einer besonderen Seele, gesellig, musikalisch sehr, ein sorgsamen und zartfühlender Sohn, Ehemann, Vater, Bruder und  Enkel. Und nun gab es Kostja nicht mehr ...

Und dann kamen in  unserer Straße die Todesnachrichten immer häufiger und häufiger. Der Briefträger ging mit schweren Schritten  tief gebeugt, auf seinem Gesicht,  so schien es, hatte sich ein Abdruck tiefster Trauer für immer eingebrannt. Man sagte einfache Worte des Trostes und selbst wischte man sich dabei die Tränen heimlich weg.

Ende Juni 1941 habe ich zusammen mit Mitschülern die Erklärung mit dem Antrag geschrieben, mich an die Front zu schicken. Beim Gebäude des Kriegskommissariats hatte sich, so schien es, die halbe Stadt versammelt. Einige waren wegen Benachrichtigungen gekommen, aber die Hauptmasse bildeten die Freiwilligen. Nachdem wir lange in der Reihe gestanden hatten,  waren wir endlich im Kabinett des Militärkommandaten. Es hat nur kurz auf  unsere Dokumente geblickt und  sie uns zurück zurückgegeben — wegen des  Alters waren wir nicht geeignet. Sogar die Bescheinigung über den Abschluss des Kurses Ossoawiachima[5] und der Motorrad- Führerschein, auf die ich so rechnete, haben die Entscheidung  nicht beeinflusst. Alles unser Zureden gegenüber dem Militär-Kommandeur hat er mit den Worten unterbrochen: «Gehen Sie, stören Sie nicht zu arbeiten!» Nachdem wir wieder aus der Tür heraus waren, haben wir beschlossen, der Front auf andere, für uns einzig und allein möglich Weise zu helfen und in Verteidigungsbetrieben zu arbeiten.  

Ich habe die Schule abgebrochen und begann als ist Anreißer im  Betrieb "Barrikade" zu arbeiten, dort wo mein Vater arbeitete. Ich war damals 17 Jahre alt.

Früher kannte ich die " Barrikaden" nur aus Schulexkursionen. Nach zwei Monaten hatte ich die Prüfung abgelegt und erhielt die vierte „Qualifitaionsstufe für mechanische Markierung“. Ich arbeitete 12 Stunden pro Tag bei einem arbeitsfreien Tag in der Woche, den wir nach Lage der Dinge nehmen durften.

Oft erinnere ich mich an diese Zeit, mein erstes Arbeitskollektiv, die ehrlichen und offenen Beziehungen zwischen den Menschen. Die Arbeiter sagten immer das, was sie dachten, standen wie ein Fels gegenseitig für sich ein. Der Meister Nikolaj Michajlowitsch kannte die ganze Brigade gründlich, forderte nicht nur die  Planerfüllung, sondern ließ uns auch eine aufrichtige Fürsorge zuteil werden. Es kam vor, dass er in der Nachtschicht  herantritt und sagt: «ich Sehe, du bist müde, geh,  schlaf ein Stündchen!» Und dann gab er noch "die Enden“,  ölverschmierte Lappen, um sie unter den Kopf zu legen. Und dann hat er uns auch selbst später wieder geweckt.

Während meines Daseins  musste ich in ganz verschiedenen Kollektiven arbeiten, aber die  eindrucksvollsten, starken Eindrücke hinterließ bei mir das Arbeiterleben.

Das erste Kriegsjahr war verflogen. Der Feind war dicht an die Stadt herangekommen. Fliegeralarme wurden mehrmals an einem Tag gegeben. Und am 23. August 1942 etwa fünf Uhr abends war im Bereich des Traktorenwerkes die erste Panzereinheit der Deutschen durchgebrochen, und zwei Stunden später begann der massive Überfall der deutschen Luftwaffe.

Ich hatte einen arbeitsfreien Tag an jenem Tag und ich befand mich gerade im Stadtzentrum, als die ersten Bombeneinschläge zu hören waren. Es war eine dämonische Hölle! Ringsumher stürzten Gebäude ein, nach jedem Treffen stürzten sie  auf die Erde zugleich stiegen Rauchschwaden und dichter Staub zum Himmel. Die Menschen suchten Schutz vor den Bomben und aus irgendeinem Grunde gerade in der Nähe der Trümmer der Gebäude, sie kamen zu Hunderten unter ihren Trümmern um. Ringsumher klangen Schreie, Stöhnen, Brände begannen, und die Flugzeuge flogen  in immer weiteren Wellen über die Stadt.

Vor dem Abwurf von Bomben machten die Flieger eine große Kurve und kamen im Sturzflug aus Osten, von der Seite der Wolga, auf diese Weise entgingen sie dem Feuer unserer Flak, die im westlichen Teil der Stadt stationiert war. Am Abend brannte die Wolga vom ausgelaufenen Erdöl der brennenden Tanker und der Lastkähne. Der Anblick des brennenden Flusses machte den Eindruck eines  Alptraumes!

In der Nacht bombardierten die Deutschen nicht sehr stark, aber ab dem Morgen wurden begannen die Angriffe mit der vorigen Intensität erneuert. Mir gelang es wie durch ein Wunder lebendig aus dem Stadtzentrum herauszukommen. Einmal explodierte in der Nähe etwas, ich stürzte und Baum fiel auf mich. Nach Hause kam ich erst  sehr spät nachts und zum Morgen, ungeachtet des starken Schmerzes im verstauchten Rücken, rannte ich ins Werk.

Im "Barrikaden-Werk" löschte man die zahlreichen Brände, rettete die heil bleibende Ausrüstung und der wertvollsten Rohstoff. Es wurde klar, dass eine normale Arbeit des Betriebes unter den Bedingungen der nicht aufhörenden Bombenangriffe und des Beschusses unmöglich geworden war. Deshalb war es entschieden, alles, was irgend möglich war, an das andere Wolga- Ufer zu schaffen.

Die Aufgabe war sehr kompliziert, es musste Tag und Nacht gearbeitet werden. Ich erinnere mich, irgendwie haben wir einmal die nächste Ladung Buntmetalle und übergesetzt, und anstatt mit diesem Dampfer wie üblich sofort zurückzufahren, waren wir gezwungen auf diesem Ufer bis zur Ankunft eines irgendwie verspäteten Fahrzeuges zu warten. Man kann ja die Ladung nicht einfach so ans Ufer werfen. Der Kapitän des Dampfers beeilte sich zurückzufahren und  konnte nicht auf uns zu warten und, versprach, uns bei der nächsten Fahrt mitzunehmen.  Als sein kleines Schiff schon auf der Mitte des Flusses war, kamen deutsche Flugzeuge. Vor unseren Augen wurde der Dampfer versenkt, niemand von den Menschen an Bord konnte sich retten...  

Im November begann die Evakuierung der Barrikade- Leute  nach Gorki in  den Betrieb № 92 namens I. W.Stalin. Aber schon im April 1943, sofort nach der Eröffnung der Schifffahrt, fuhr das ganze Werkskollektiv mit den ersten Dampfern zurück nach Stalingrad, in unseren Heimat-Betrieb. Die ganze Stadt lag in den Ruinen, auch "die Barrikade" hatte stark gelitten.

Damals arbeiteten im Betrieb nur 76 Menschen, aber es wurden große Aufgaben gestellt, die Fristen waren extrem kurz. An die Front wurde niemanden entlassen, Fachkräfte reichten ohnehin nicht aus. Um im Betrieb zu arbeiten wurde jeder  genommen, der nur ein Werkzeug halten konnte. Wir bauten den Betrieb wieder auf, ohne auch nur für eine Minute die Produktion zu unterbrechen.

Und bald fertigten wir unsere erste Militärproduktion — Geschütze, die Anhänger für die Beförderung von Geschossen, reparierte Armeetechnik. Der Betrieb kam schnell wieder in Fahrt und verwandelte sich erneut in einen großen  Betrieb der Verteidigungsindustrie – und das bleib er bis in jüngste Zeit.

Im Sommer 1943 wurde ich in das Kreiskomitee der Partei des Werkes  für ein  Gespräch zum ersten Sekretär Romanenko eingeladen. Wir stellten uns gegenseitig vor, redeten über Dinge des Werkes  und dann machte er mir unerwartet ohne jeden Übergang Vorschlag: «Und wie wäre es, Komsomolarbeit zu probieren?» Ich habe nicht sofort verstanden, worum es geht. Mir wurde erklärt, dass in unserem Bezirk für die Arbeit im Betrieb und den Aufbau etwa Tausend junge Männer und Mädchen angekommen sind, ihnen muss man helfen, sich im Alltagsleben einzurichten, sofern das unter den Bedingungen der zerstörten Stadt möglich war, sich schneller in den Arbeitsprozess einzugliedern und eine Komsomolorganisation zu schaffen. Diese Arbeit soll der Komsomol –Organisator des ZK des  ВЛКСМ [6] leiten. In diesem Zusammenhang entstand  meine Kandidatur.

Am nächsten Tag wurde auf die Sitzung des Büros des Stadtbezirkskomitees der KP gerufen, wo der Beschluss gefasst wurde, mich als „Komsomol-Org. des ZK des ВЛКСМ auf die  Sonder- Baustelle № 25 des Bau-Ministerien der UdSSR zu schicken. Nach einem Monat wurde ich auf der Vollversammlung der Komsomolorganisation zum Sekretär des werkseigenen Komitees des kommunistischen Jugendverbandes gewählt. Und im Juli des Folgejahres, 1944, hat man mich zum ersten Sekretär des Barrikade- Stadtbezirkskomitees des ВЛКСМ gewählt.

In diesem Jahr geschah noch ein weiteres sehr wichtiges Ereignis in meinem Leben das — ich trete der kommunistischen Partei bei und werde mein ganzes Leben Kommunist!

Und endlich der langersehnte Sieg! Es ist schwierig, jene Gefühle zu beschreiben —es gab wirklich Freuden - Tränen, denn es gab keine Familie, die nicht den Schmerz des Verlustes von Angehörigen ertragen musste. Aber das Leben ging weiter —die untröstlichen Mütter weinten die letzten Tränen, wer am Leben geblieben war kehrte zurück  und das ganze Land stürzte sich auf die nächste Aufgabe, jetzt schon jetzt schon friedliche — die zerstörte Volkswirtschaft wieder herzustellen. Bis jetzt höre ich nicht auf, mich zu verwundern, wie es gelang, mit dieser wahrhaftig grandiosen Aufgabe in solchen Rekordfristen zurechtzukommen!

Der Krieg war beendet, und jetzt konnte man sich ernsthaft mit dem weiteren Studium beschäftigen, der Gedanke daran verließ mich niemals. Noch in 1944 wurden in Stalingrad die Abendschulen der arbeitenden Jugend eröffnet. Ich habe begonnen, in der 10. Klasse (die 9. Klasse hat in 1941 beendet) zu lernen und im folgenden Jahr erhielt ich das Reife- Zeugnis[7]. In selben Jahr 1945 begann ich das Studium im Saratower juristischen Institut, allerdings war mir ein Studium in der  Direktabteilung nur für ein Jahr gegönnt. Der Vater war in Rente gegangen, bei der Mutter hatte sich die Gesundheit verschlimmert, in großer Not lebte meine Schwester mit fünf Kindern, der Älteste war 9 Jahre alt. Man musste helfen, und 1946 wurde ich in die Abteilung für das Fernstudium  versetzt. Im Sommer desselben Jahres hat man mich zum zweiten Sekretär des Stalingrader Stadtkomitees des kommunistischen Jugendverbandes gewählt. Jedoch auf dem Gebiet der Komsomolarbeit war ich nur kurz tätig , denn  ich hatte mich entschieden, in den Organen der Staatsanwaltschaft zu arbeiten, um das Fernstudium mit dem Erwerb praktischer Fertigkeiten zu verbinden, die für den zukünftigen Beruf notwendig waren.

In den Organen der Staatsanwaltschaft habe ich insgesamt fünf Jahre gearbeitet: als Ermittler, Staatsanwalt der Untersuchungsabteilung der regionalen Staatsanwaltschaft und  Bezirks- Staatsanwalt.

In jenen Jahren wurde dem Kampf mit der Kriminalität sehr große Bedeutung beigemessen. die Rechtsschutzorgane waren wirksam, aber die Hauptsache lag in etwas anderem — die Verletzer der Gesetzes hatten keine soziale Basis, mit ihnen kämpfte nicht nur die Miliz, sondern auch breite Schichten der Öffentlichkeit, das ganze Volk. Aber sogar nach der massenweisen Demobilisierung nach Kriegsende, nach der Amnestie, unter  Bedingungen, dass an den Stellen der kürzlichen Kämpfe noch  Berge von nicht entsorgten Waffen verschüttet waren, der unvermeidliche Anstieg der Kriminalität, besonders der Schwerverbrechen, wie Totschlag, Banditentum und  Raube, relativ unbedeutend , damit gelang es schnell zurechtzukommen. Jawohl,  es gab dagegen harte Maßnahmen, aber sie waren rechtfertigt und bekamen die volle Unterstützung bei der Bevölkerung. Jedes Schwer- Verbrechen im Bezirk war Gegenstand einer besonderen Gerichtsverhandlung auf allen Ebenen, der Verlauf der Untersuchungen unterlag einer unermüdlichen Kontrolle. Die Aufklärungsrate war deshalb fast hundertprozentig, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gelang es den Straftätern nicht, ihrer Strafe zu entgehen. Was die Wirtschaftsverbrechen betrifft, so waren das überhaupt nur Einzelfälle  und die Summe des verursachten Schadens war dabei unbedeutend.

Ich nehme an, dass ein solches geradezu ideales Bild heute Einigen eher unwahrscheinlich erscheinen kann, aber auch wir konnten uns seinerzeit nicht entfernt vorstellen, dass solche Maßstäbe der Kriminalität möglich sind, welche wir heute haben.

1946, als ich schon in der Staatsanwaltschaft arbeitete, war Vater in Rente gegangen. Seine Gesundheit war zu jener Zeit extrem angegriffen. Noch in 1928 hatte er infolge eines Betriebsunfalls ein Auge verloren. Im Lebensende war es ihm schon schwierig, Buchstaben zu erkennen und er bat mich oder die Mutter, ihm laut vorzulesen.

Der Vater interessierte sich immer sehr für die Ereignisse, hatte zu vielen Dingen  seinen eigenen Standpunkt. So meinte er zum Beispiel, dass bei uns im Land das Privateigentum sinnloserweise vollständig unterdrückt wird, dass das Wachstum des persönlichen Wohlstands nicht gefördert wird und er wiederholte oft, dass das Volk ohnehin schon sehr für die hohen Ideale geleistet hat, dass nunmehr das materielle Interesse schrittweise zum Leben gehören sollte. Eine Erziehung zur Arbeit hielt Vater für eine unbedingte Bedingung der gesunden Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft. Er hörte auch in der Rente l nicht auf, viel in unserer einfachen Nebenwirtschaft zu arbeiten, wobei es das mit sichtbarem Vergnügen tat.

Vater ist am 5. Juli 1951 gestorben, zu seiner Verabschiedung kamen zur großen Überraschung viele Menschen. Die Arbeitskollegen haben ihm einen bescheidenen Obelisken aus Edel- Stahl aufs Grab gesetzt und eine einfache Umrandung.  Zwei meiner Nichten, die Töchter der Schwester pflegen sein Grab bis jetzt, sie wohnen auch heute noch in ihrer Heimatstadt.

Mein Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn ich für immer in Stalingrad geblieben wäre.

1951 geschah jedoch eine scharfe Wendung in meinem Leben. Zu jener Zeit war es  mir schon gelungen, das juristische Institut zu beenden (1949), war Staatsanwalt des Kirow- Bezirkes von Stalingrad und an dachte überhaupt nicht an irgendwelche andere Arbeit.

Aber Anfang des Sommers 1951 erhielt das Stalingrader Gebietskomitee der Partei erstmals ein Kontingent für zwei Kandidaten zum Studium in der Höchsten diplomatischen Schule des Außenministeriums der UdSSR. Niemand von den örtlichen Leitern hatte auch nur die geringste Vorstellung davon, über welche Eigenschaften diese Auserwählten verfügen müssen. Kandidaten gab es zuerst viele, aber im Endeffekt hat man sich  für zwei entschieden, die eine Hochschul- Justizausbildung hatten, einer dieses zwei war ich.

In Juli 1951 sind wir nach Moskau für den Durchlauf bei der Mandatskommission und die Absolvierung der Prüfungen gefahren.

So bin ich zum ersten Mal im Leben in die Hauptstadt geraten. Wieviel Aufregungen, greller Eindrücke und Entdeckungen gab es dort! Der Komplex des Moskauer Kremls, die unzähligen Museen, Theater, die riesigen Gebäude und, wie es mir schien, die extrem breiten Straßen, die buchstäblich von Autos überflutet waren, die mit Waren angefüllten Geschäfte —das alles hat auf mich, den Provinzler, einen einfach erschütternden Eindruck gemacht!

Niemals werde ich vergessen, wie ich mich zum ersten Mal neben dem Bolschoi-Theater befand und in die Moskauer Metro heruntergestiegen bin. Auch die ungewöhnliche Sauberkeit der Moskauer Straßen hat mich beeindruckt— nachts fuhren bis zum Morgen die Kehrfahrzeuge in der Stadt, kehrten und besprühten das ohnehin steril saubere Pflaster. Diese meine ersten Eindrücke von Moskau drangen tief ins Gedächtnis ein, daran denke ich bis heute.

Die ersten Tage in der Hauptstadt waren Gesprächen in verschiedenen Kommissionen und der Abgabe  der Prüfungen gewidmet. Das alles erfolgte im alten Gebäude des Außenministeriums auf der  Kuznetzki-Brücke, im Haus in der  Nachbarschaft mit dem ausdrucksvollen Denkmal für Worowskij [8]  und... dem zukünftigen neuen Gebäude des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR, in dem sich mein letztes Amtszimmer befand.

Ich Erinnere mich, die Aufnahmekommission leitete der bekannte sowjetische Diplomat A. W.Bogomolow, damals stellvertretender Minister der auswärtigen Angelegenheiten der UdSSR. Ich war natürlich aufgeregt und die ungewöhnliche Situation trug dazu bei. Aber alles ist günstig verlaufen. Anfangs, als von Bogomolow zahlreichen Fragen kamen, hatte ich gedacht, dass man mich "versenken" will. Aber der Vorsitzende der Kommission, der offenbar meine Gedanken erfasst hatte, sagte, dass ihm meine Antworten gefallen und er mich einfach näher kennenlernen will.

Am nächsten Tage kamen Gespräche mit den anderen Kommissionsmitgliedern, dann Examen, auch das erfolgreich….

Nach Abschluss der Prüfungen wurde ich, wie es damals üblich war, haben auf die zu einem Gespräch zum ZK der KP ()am „Staraja Ploscadj“ eingeladen. Zum Schluss wurden Fragen und darüber gestellt, warum habe ich zugestimmt hatte, zum Studium in der Diplomatenschule  zu gehen. Es war bemerkenswert, dass diesem Thema besondere Bedeutung beigemessen wurde.

Außer den üblichen Floskeln über die Ehre des Dienstes für die Heimat auf dem diplomatischen Arbeitsgebiet und der Dankbarkeit für das Vertrauen und erinnere mich, dass ich eingestanden hatte, dass ich von Kindheit an träumte, Diplomat zu werden. Die Antwort, war offenbar  unerwartet und man hat mich gebeten, das zu erklären. Ich habe erzählt, dass man in unserer einfachen Arbeitsfamilie, wie ich mich erinnere, immer großes Interesse für die Auüenpolitik vorhanden war.

An der Wand im Elternhaus hing eine riesige Landkarte der Welt, die ich schon in der Kindheit ausgezeichnet kannte. Schon im Alter von 11 Jahren haben wir abends, nachdem wir Zeitungen gelesen und r Rundfunk gehört hatten  (hatten wir ein selbstgebautes Radio), erzählte ich zu Hause detailliert über die Ereignisse in der Welt. Damals, verfolgten wir alle aufmerksam den Verlauf des italienisch-abessinischen Krieges, nahmen uns jede Niederlage der Äthiopier zu Herzen und waren  buchstäblichen Sinn waren vom Kummer erschlagen, als diese die Niederlage erlitten hatten.

Ich habe auch darüber erzählt, was ich während der letzten Jahre häufig mit den Vorträgen über die internationale Lage aufgetreten war. So dass ich jetzt einfach nur schwer glauben konnte,  dass der Kindertraum so unerwartet begonnen hat, reale Umrisse zu bekommen.

Es schien mir, dass meine Antworten einen guten Eindruck gemacht haben. Jedoch wurde mir, im Geiste jener Zeit, nichts Bestimmtes gesagt, man hat mir nur empfohlen, nach Stalingrad zurückzufahren, wohin man mir die getroffenen Entscheidungen mitteilen wird. In voller Unwissenheit bezüglich des zukünftigen Schicksals hielt ich mich bis zum Ende des Augustes auf, als ich endlich die langersehnte Benachrichtigung von meiner Aufnahme in die WDSch[9] (ВДШ)  erhielt

Es war ein frohes Ereignis nicht nur für mich, meine Verwandten und zahlreiche Freunde, sondern auch für die Kollegen, Bekannten und einfach die Nachbarn. Ich war immerhin der erste Stalingrader, der zum Studium in die höchste  diplomatische Schule des Außenministeriums der UdSSR kam! Aber schon damals habe ich stark darüber nachgedacht, was mich künftig erwartet, wie sich das weitere Schicksal bilden wird, wie sich diese heftige Veränderung im Leben auf der Familie widergespiegelt werden wird... Natürlich, damals konnte mir nicht in den  Kopf kommen, dass irgendwann dieser neue Weg mich auf eine Moskauer Gasse mit einem solch traurigen und poetischen Titel «Matrosenstille» bringen wird!

Am letzten Tag des August 1951 bin ich in Moskau angekommen und wurde im Wohnheim der  WDSch, das sich unweit vom Pawelezki Bahnhof befand, in der Stremjannow Gasse, Haus 29 untergebracht, das bis jetzt meiner Meinung nach existiert. Ich hatte einen kleinen auf zwei Menschen berechneten Raum von der Fläche ungefähr 6 Quadratmetern ( Gemeinschafts-Toilette und Küche auf dem Flur), in dem ich alle drei Jahre des Studiums gewohnt habe, in jenen Zeiten waren das durchaus vernünftige Bedingungen. Ich musste viel arbeiten: zwei Sprachen aneignen - ungarisch und deutsch, für mich neue Wissenschaftsgebiete  studieren. Täglich, außer Sonntag, stand ich um sechs Uhr morgens auf, und beendete den Tag ca. 2 Uhr in der Nacht. Und so von den Ferien bis zu den Ferien. Dabei halfen meine Jugend und der riesige Wunsch, zu lernen!

Zum ersten Mal hatte ich im Leben eine Möglichkeit, sich nur mit dem Studium zu beschäftigen. Das Gebäude der Dipolmatenschule befand sich in einer ruhigen Gasse unweit vom Roten Tor – der großen Koslowski- Gasse  im Haus № 4. Die Räume waren klein, deshalb wurde buchstäblich jeder Quadratmeter, einschließlich Keller verwendet, wo sich das gemütliche Buffet befand. Am meisten war ich von der Fülle der  Bibliothek beeindruckt, vom ersten Tag des Studiums an kam ich buchstäblich nicht von dort heraus.

Die erste Beschäftigung in der WDSch war bei mir Ungarisch. In der Gruppe gab es  drei Hörer. Der Lehrer hat mit der Erzählung über die Schwierigkeiten des Ungarischen begonnen, in dem es 28 Fälle, keine Geschlechter, für die Russen ungewöhnlichen Satzaufbau, eine komplizierte Aussprache und im selben Geist so weiter gibt. Er wollte uns offenbar auf die anstrengende  Arbeit einstimmen, aber der Effekt hat sich gerade entgegengesetzt ergeben - bei der zweiten Beschäftigung bestand die Gruppe nur noch aus zwei Menschen, und bald blieb ich ganz und gar allein. Beider Genossen waren der Meinung, dass sie ungarisch nicht schaffen werden sich anzueignen und waren zur Leitung der Schule mit der Bitte um den Wechsel der Sprache gegangen. Fachkräfte wurden nicht nur für Ungarn gebraucht, deshalb wurde ihrer Bitte leicht entsprochen. So  ergab es sich, dass aus unserem ganzen Studiengang für alle drei Jahre man nur mich in Ungarischen ausbildete.

Übrigens hat unser Lehrer verstanden, dass er offenbar einen Fehler gemacht hatte, die Perspektive erschrocken geworden, den letzten Schüler zu verlieren und hat seine Taktik total geändert - jetzt flößte er mir ein, was ungarisch ja gar nicht kompliziert ist, und überhaupt der Teufel nicht so furchtbar ist, wie es immer beschrieben wird! Mich belustigten, so erinnere ich mich, deutlich seine ständigen Sentenzen darüber, dass ich diese berüchtigte Sprache nicht als Erster lerne und dass  meine Vorgänger mit dieser Aufgabe auch befriedigend zurechtkamen, und einen Zuschlag zum Gehalt für Ungarisch wird auch gezahlt…  Ich musste sogar den armen Mann beruhigen, versichern, dass ich nicht im Begriff bin, zurückzutreten.

Schließlich ist alles normal ausgegangen und ich wurde, wie meine Schulkameraden scherzten, vom Gesichtspunkt des Materialaufwands der "teuerste" Hörer – denn ich hatte ja eine gesonderte Sprach-Gruppe mit einem. " persönlichen Lehrer ". Nach dem Sprach-Wechsel meiner  Genossen zeigten sie noch lange danach noch auf mich mit Fingern und sagten: «Da geht der Sonderling, der ungarisch lernt».

Also mit der  Sprache hat es nichts desto weniger bei mir geklappt. Ziemlich schnell hatte ich mich in der Grammatik zurechtgefunden, ihre innere Logik verstanden und mich mit aller Kraft auf den Wortschatz konzentriert. Dafür hatte ich mir eine bequeme Methodik entwickelt und fing an, ständig die Zahl der pro Tag erlernten Wörter zu Vergrößern. In einem kurzen Zeitraum hatte ich diese tägliche Quote auf über  Hundert Wörter gesteigert, was sogar erfahrene Pädagogen verwunderte. Aber das Geheimnis war einfach - ich trug spezielle Karten überall mit mir herum , auf die ich die erlernten Wörter schrieb, und bei der geringsten Möglichkeit - ob in der Metro, in den Pausen zwischen den Beschäftigungen –holte ich sie aus der Tasche und begann sie durchzusehen, mischte sie , wie es gerate kam. Wenn sich abends ein vergessenes Wort zeigte, so folgte die Strafe - das Umschreiben der ganzen Hundert Wörter und der Wortverbindungen, die meine tägliche Norm bildeten, auf neue Karten.

Buchstäblich nur einige Tage nach dem Anfang der Beschäftigungen musste ich  mich parallel zu Ungarisch auch mit Deutsch beschäftigen. Diesmal war in der Gruppe der volle Satz - drei Leute. Von einer der Dozentinnen war Sophia Borissowna Liebknecht, die Frau Karls Liebknechts. Sie war schon über siebzig. Vom Alter und wegen ihrer Gesundheit bewegte sie sich nur mit Mühe, aber die auffallende Lebendigkeit des Verstands war erstaunlich. Sie war von der Natur beschenkt, hochgradig  gebildet, intelligent und sehr taktvoll. Ihre deutsche Pünktlichkeit war beeindruckend, in der ganzen Zeit der Ausbildung verspätete sich diese 70-jährige, nicht hat die sehr gesunde Frau Mal niemals!

In 1953 im Herbst war sie einige Zeit in der DDR, hatte Westberlin besucht, hat an der Stelle der Ermordung ihres Mannes verweilt. Sie teilte auch mit uns die Eindrücke vom Erlebten und  Sophia Borissowna wiederholte häufig, dass die Deutschen in der DDR besser leben, als die sowjetischen Menschen, aber in der Lebensqualität den westlichen Mitmenschen offenbar nachstehen. «Wenn in der DDR, - sagte sie, - die Versorgung schon gut, so ist sie in Westdeutschland hervorragend: früher  oder später, so sagte sie,  wird eine solche Situation zum Entstehen zu einem großen und äußerst  gefährlichen deutschen Problem » werden. Ich erinnere mich, dass uns ihre Beunruhigung verwunderte, denn wir wurden in einem anderen Geiste erzogen, wo im  Grunde die materiellen Belange keine bemerkenswerte Rolle spielten.

Man muss sagen, ich beschäftigte mich gern mit Deutsch. Diese Sprache erinnerte an mich an Stalingrad. Über die Großmutter väterlicherseits habe  ich schon erzählt. Außerdem wohnte in unserer Straße, im benachbarten Hof, in einer Erdhütte eine deutsche Familie. Der Chef dieser Familie arbeitete im Betrieb "Barrikade" und war, wie mein Vater sagte, ein sehr geachteter Facharbeiter und sehr guter Arbeiter. Ich habe mich mit seinem älteren Sohn  angefreundet, einem neunjährigen Jungen, meinem Altersgenossen. Wir gingen häufig gegenseitig zu Besuch, hielten in der Straße ständig zusammen – wir versuchten sogar in Spielen immer, in der gleichen Mannschaft zu sein. Mein deutscher Freund konnte noch nicht gut Russische. Wie ich konnte, half ich ihm, und als Antwort lernte er mir deutsche Wörter. Damals ist der Wunsch entstanden, Deutsch zu lernen, ich habe mir sogar geschworen, das zu machen. Unsere Kinderfreundschaft hat fast 7 Jahre gedauert. Später hat der Krieg angefangen, und nach einigen Tage waren keine deutschen Familien in den benachbarten Höfen mehr zu sehen: alle Deutschen wurden ausgesiedelt. Seit dieser Zeit habe ich die Spur meines Freundes verloren, aber die Erinnerung an die gemeinsamen Kinderjahre und unsere Freundschaft ist für immer erhalten geblieben.

Das dreijährige Studium in der WDSch 1951 - 1954 hat mir unglaublich viel gegeben. Zum ersten Mal gab es eine ernsthafte Möglichkeit, sich mit Sprachen und dazu noch mit Dutzenden anderer Gebiete, sowohl Spezial- Fächern, als auch allgemeinbildend zu beschäftigen. Ich studierte sowjetische und ausländische Literatur, hatte einen breiten Zugang zu den Original-Quellen bekommen, war  im buchstäblichen Sinne mit einer Elite von Professoren und Dozenten umgeben. Das alles schuf die ausgezeichneten Bedingungen für den Erwerb von Wissen und der Basis  des zukünftigen Berufes. Und ich möchte auf ein wichtigstes Merkmal jener Zeit hinweisen - auf die qualitativen Veränderungen im Lehrprozess nach dem Tod Stalins.

Am 5. März 1953, als Stalin starb, verstanden bei weitem nicht alle, was das für  die sowjetischen Menschen, und nicht nur für sie, der Verlust dieses Menschen bedeutete. Die Menschen waren vom Kummer erfasst, und kaum einer empfand  in jenen Tagen andere Gefühle.

Auf der Trauerkundgebung, die in der WDSch,  konnten die Redner ihre Tränen nicht verbergen, wobei sie Stalin sogar stärker, als zu seinem Leben priesen. Dabei stellte jeder die Frage, wie man weiter leben wird, was uns künftig erwartet? Die ersten Wochen vergingen wie bisher ihren Lauf, jedoch fühlt man, dass die inneren, sich  über Jahre angesammelte Spannungen sich  nach außen  entladen werden. Nichtsdestoweniger setzten sich immer noch mechanisch fort, dass man sich in der Öffentlichkeit fürchtete, darüber zu sprechen, woran man dachte, obwohl die Angst allmählich abnahm. Der entscheidende Bruch im Bewusstsein der Menschen passierte erst mit Verhaftung Berijas. Damals hat eigentlich erst die Epoche der neuen Zeit angefangen, dessen Charakteristikum die Überbewertung der Werte war, mit denen die Gesellschaft bis zu jener Zeit lebte. Nicht zufällig hat damaliger Präsident der USA Eisenhower bemerkt:« Mit dem Tod Stalins hat in der Sowjetunion eine Epoche geendet und andere hat angefangen». Leider hat sich der Umgestaltungs- Prozess, der den Wechsel von Epochen unvermeidlich begleitet, bei uns offenbar hingezogen. Manchmal scheint es mir, dass er bis jetzt andauert.

Ab Anfang des Lehr-Jahres 1953/54 hat der Wind der Veränderungen auch unsere Dip-Schule erreicht. Jedoch kamen "alle Neuerungen oben", allerdings  sehr dosiert, von irgendwelchen Initiativen von unten konnte keine  Rede sein.

In jenem Jahr hielt ich die Vorlesungen über die internationale Lage im Rahmen der Gesellschaft "Wissen«. Bevor man den Hörsaal betrat, bekam man unbedingt bestimmte Hinweise, sich auf den offiziellen Standpunkt auszurichten, deshalb liefen alle Propagandisten, wie man uns dann nannte, selber auf die Vorlesungen , die sogenannten "Instruktionsvorträge" unserer bekannten politischen Kommentatoren - Oleschtschuk, Korionow und andere . Wir fingen jedes Wort unserer Koryphäen der propagandistischen Front ein und jedes Mal bemerkten wir irgendwelche Verbesserungen in den Einschätzungen «des laufenden Momentes», fingen die neuen Betonungen in der Interpretation der sowjetischen Außenpolitik ein. Jedoch zog unsere Aufmerksamkeit am meisten alles das auf sich, was die Persönlichkeit Stalins betraf. Obwohl es gerade auf diesem Gebiet keine bedeutenden Veränderungen gab, war es doch offenbar, dass der Name Stalins immer seltener ausgesprochen wurde, man verwies immer weniger auf seine Zitate. Die Mehrheit von uns befremdete das eher, in jedem von uns lebte noch die  Figur des Führers, die unzertrennlich mit dem Sieg im Kriege und mit anderen wichtigen Erfolgen des sowjetischen Volkes verbunden war.

Mit dem Gefühl des Bedauerns denke ich immer daran, dass ich nach dem Abschluss der Ära Stalin nur ein Jahr, nur das letzte Jahr in der diplomatischen Schule studiert habe. Die wesentlichen Korrekturen in den Lehrprogrammen waren erst nach meinem Abschluss der WDSch erfolgt. Danach begannen nach den Erzählungen der Absolventen der späteren Jahre, die Seminare in anderem Stiele zu laufen  - es gab mehr Diskussionen, schöpferisches Herangehen.

Juni 1954. Die WDsch liegt hinter mir, ein rotes Diplom[10], Entsendung zur Arbeit ins Außenministerium, in die ungarische Richtung. Der feierliche Abschlussabend ist verklungen, die langersehnte diplomatische Arbeit steht bevor, aber zuvor noch der  Monats- Urlaub, den die Absolventen erhielten.

Mit meiner Frau haben wir uns entschieden, diese Möglichkeit zu nutzen, um sich an der Schwelle der Arbeit auf dem neuen Arbeitsgebiet besser zu erholen. Da man uns gesagt hatte, dass frischgebackenen Diplomaten eine Uniform zusteht, haben wir uns mit der Frau entschieden, dass ich nicht zwei Mäntel brauche – einer wird ausreichen, neben dem "formgemäßen". Deshalb haben wir meinen bisherigen guten "bürgerlichen" Mantel verkauft, und so zusätzlich "Urlaubsgeld" bekommen. Und am 1. August, als ich ins Außenministerium der UdSSR zur Arbeit kam, wurde uns erklärt, dass die Uniform für Diplomaten abgeschafft wurde... Also musste mir noch ein ganzes Jahr länger den ganz alten Mantel abtragen, der glücklicherweise von den letzten Jahren erhalten geblieben war.

So lebten wir, uns manchmal mit Mühe "vom Gehalt bis zum Gehalt» schleppend, obwohl der Optimismus und Glauben an die bessere Zukunft darunter nicht litt. An die Geschichte mit der unglücklichen Uniform und den so unvorsichtig verkauften Mantel erinnerten wir uns mit Lachen, ohne irgendwelches Bedauern.

Im Außenministerium wurden wir freundlich empfangen. Am ersten Tag empfing  Michail Wassiljewitsch Simjanin, Leiter der IV. Europäische Abteilung, die Gruppe der neuen Diplomaten. Es war bemerkenswert, dass er in seinen Überlegungen und Ratschlägen eine ungewöhnliche "Freiheit" in Bezug auf die offizielle Linie durchblicken ließ. Im Verlauf des Gespräches warf Simjanin ständig solche für uns ungewöhnlichen  Sätze ein : «Hier sollten wir noch recht gut nachdenken", «Etwas muss man revidieren", «In der Außenpolitik muss ein neues Herangehen kommen", «das sozialistische Lager muss man mit allen Mitteln gefestigt werden, aber die sozialistischen Länder sollen sich in vieler Hinsicht selbst orientieren" und in diesem Sinne weiter.

Die älteren Genossen haben den Neulingen erzählt, dass früher die Aussagen der Leitung  einen weit resoluteren, vorschreibenden Charakter hatten. So erreicht der Wind der Veränderungen auch eine solche,  sagen wir es ohne Umschweife,  konservative Organisation, wie es unser Amt für Auswärtige Angelegenheiten war. Das war für alle spürbar, obwohl auch klar war, dass die gegenwärtigen Veränderungen noch bevorstehen, und niemand konnte sich deren konkreten Inhalt, ja sogar deren Richtung vorstellen.

In vieler Hinsicht sollte sich unser neuer, vielmehr der korrigierte außenpolitische Kurs danach richten, welchen Weg die innenpolitische Entwicklung des Landes in der Nach- Stalinperiode gehen wird. Was im Lande konkret tunt, wie es unter den neuen Bedingungen verwalten, niemand hatte in unserer damaligen Führung gerade davon eine Vorstellung. Die einen wollten offenbar mit dem vorigen Leben nicht brechen, andere, obwohl sie sich der Notwendigkeit von Reformen bewusst waren und entschlossen waren, mit dem Alten Schluss zu machen, nicht wussten, was dafür   tatsächlich zu machen ist. Dabei wirkte sich das Erbe der Stalinepoche, wenigstens in der Führung aus. Niemand getraute sich, entschlossene selbständige Aktionen zu unternehmen. Eine Leitfigur "hat sich" in diesem komplizierten historischen Moment in unserem Vaterland wie immer nicht gefunden. Gerade deshalb begannen der Staat und die Gesellschaft eine Entwicklung vorwärts ohne eine klare Konzeption, ohne klare Orientierungspunkte insgesamt.

Leider ist eine solche Handlungsweise für uns bis jetzt charakteristisch, die Situation «des Fehlens einer Leitfigur [11] » verfolgt unser leidgeprüftes Volk, wie ein böses Schicksal ...

Viele Konzeptionen, Programme wurden hauptsächlich auf emotionalem Wege, ausgehend von wohlwollenden  Wünschen erstellt, ausgehend von zufällig gestellten Fristen, ohne Rücksicht auf die Realität und ohne gründliche allseitige Analyse der weltweiten gesammelten Erfahrungen. Daraus entstand der Mangel an innerer Logik und der Reihenfolge in unseren Handlungen, die übermäßige Eile, die an ein destruktives Abenteurertum grenzte. Wie auch früher, wurde die Mehrzahl der allerwichtigsten  Entscheidungen von Einzelpersonen getroffen [12]  (wobei von bei weitem nicht den klügsten und auch sonst oft lasterhaften Personen), obwohl die Kollektivität das  politische Fundament unserer Ordnung war. Ohne erforderliche Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, wiederholen wir jetzt wieder die Fehler, die wir schon der Vergangenheit machten...

In dem ungarischen Referat, wohin ich eingeteilt worden war, arbeiteten acht Leute. Sie saßen alle in einem kleinen Zimmer im 17. Stockwerk des Hochhauses am Smolensker Platz, wohin zu jener Zeit das Außenministerium umgezogen war. Jeder hatte einen kleinen Schreibtisch, einen  kaum größeren hatte der Leiter des Referats. Hier sahen wir die Post durch, bereiteten Dokumente vor, besprachen allgemeinene Aufgaben, stritten, empfingen hin und wieder Besucher aus anderen Ämtern.

Am Ende des Tages schwirrte es im Kopf von den Gesprächen, dem Telefon- Klingeln und dem Zigarettenrauch. Aber in dieser Enge gab es auch zweifellos etwas Positives  - wir waren nicht nur bestens mit dem Geschehen auf dem ungarischen Felde im Bilde, sondern kannten einander auch sehr gut.

Die Meinung, die ich mir von den Genossen gebildet habe, wurde mehrfach sogar nach Dutzenden von Jahre bestätigt. Und die mich umgebenden Menschen waren natürlich ganz verschieden - sowohl nach ihren Charakteren, als auch im Verhalten und insgesamt in der Beziehung zum Leben.

Irgendwie erinnere ich mich, Ende 1954 war das Gespräch auf Stalin gekommen. Einer unserer Genossen hat eine Meinung darüber geäußert, dass  Stalin angeblich auch auf der Seite der Repressalien war. Hier meldete sich "ein wachsamer" Mitarbeiter, der "den Unverschämten" heftig zur Ordnung rief: «Was, Du hältst Stalin für einen Mörder?!»

Im Zimmer war eine unbequeme Stille eingetreten, der unvorsichtig fallen gelassene Satz konnte "dem Schuldigen" teuer zu stehen kommen. Er musste sich hastig korrigieren, umso mehr, als "der Stalinist" offenbar eine Beute gerochen hatte. Es gelang nur dank der Einmischung aller übrigen Mitarbeiter unseres Zimmers die Lage schließlich zu entspannen und der Zwischenfall wurde vertuscht.

Dieser Fall illustriert nicht nur die Lage im Außenministerium gut, sondern auch die allgemeine Atmosphäre jener Zeit, als es, wenn man Stalin als Mörder bezeichnete, zu einem ernsten Aufruhr kommen konnte. In meiner Erinnerung blieb eine Sache mit Außenminister W.M.Molotow vor dem Parteiaktiv in April 1955. Damals wurden Fragen zur Arbeit und den Aufgaben unseres Amtes besprochen. Das Wort hatte A.A.Gromyko genommen, der in jener Zeit der erste stellvertretende Minister war. In der Diskussion  hat er den Stil der Arbeit Molotows einer scharfen Kritik untergezogen, sprach über die Notwendigkeit eines neuen Herangehens in der Außenpolitik, wobei er das mit ziemlich heftigen Ausdrücken tat.

Der Saal reagierte zurückhaltend, in jener Zeit waren derartige Erklärungen ja sehr ungewöhnlich. Die Schlussrede Molotows dauerte mehr als eine Stunde. Er begann traditionell mit der Analyse der Lage im Land, später ging er zur internationalen Lage über , betonte die Wichtigkeit der größtmöglichen Festigung des sozialistischen Lagers angesichts der wachsenden Drohung seitens des weltweiten Imperialismus, zum Schluss ging er auf die Aufgaben des Kollektivs ein. In dieser Rede hat Molotow überhaupt nicht auf die kritischen Bemerkungen Gromykos reagiert, obwohl es sichtbar war, dass sie ihn schmerzhaft berührt hatten.

Anfangs war Molotow stark nervös, stotterte sogar. Danach hatte er sich, wie immer, schnell unter Kontrolle  und begann  sicher und schnell, „Ansagen“ zu verkünden, die gewohnheitsmäßigen Einschätzungen zu machen. Im Allgemeinen war es eine mittelmäßige Aktion, aber der Saal hörte zu, ohne zu atmen, es war allen klar, dass es sich jetzt entscheidet, wer Minister sein wird: nach wie vor Molotow oder Gromyko.

Es war natürlich mehr Bestimmtheit und Konkretheit zu wünschen, die Leute hatten die Losungen, die allgemeinen Aufrufe zur Verdopplung der Anstrengungen  im Kampf für eine helle Zukunft der Völker usw. einfach über. Die ausgetretenen  propagandistischen Phrasen  orientierten in keiner Weise auf ein schöpferisches Herangehen in den Fragen der Außenpolitik. Andererseits verhielten sich die Anhänger der alten Regime mit offenbarer Furcht gegenüber dem jungen, energischen Gromyko, waren zur Umgestaltung der gewohnheitsmäßigen Lebensweise nicht bereit. Deshalb klang die Rede Molotows für viele als Garantie der Stabilität, und der frische Wind versprach Überraschungen, und es war überhaupt unklar, in welcher Richtung er blasen würde.

Ungeachtet dessen leitete Molotow das Außenministerium weiter, die Zeit verging, und die Lage im Ministerium änderte sich allmählich. Langsam, aber unerbittlich kam neuer Inhalt in die Arbeit, es änderten sich ihr Stil und einfach auch die Lebensart der Mitarbeiter. Die Diplomaten fingen «plötzlich an, ihre Zungen zu lösen», begannen tiefgründiger, über die neuerliche Geschichte und aktuellen Geschehend nachzudenken, immer mehr und mehr Fragen zu stellen. Leider gab es  weniger Antworten, als diese Fragen.

Der Wind der Veränderungen hat nicht nur die Produktionssphäre, sondern auch das Privatlebens der Menschen betroffen. Bei Stalin arbeitete das ganze Personal des Außenministeriums in einem Dienstplan mit äußerst belastenden  Nachtschichten. Die einfachen Mitarbeiter beendeten  etwa zwei-drei Uhr nachts ihren Dienst, und am nächsten Morgen waren sie um 9.00 Uhr  schon wieder auf Arbeit. Freilich, es gab am Tag eine Pause von  zwei bis drei Stunden. Bei der Leitung war der Zeitplan etwas anders - der Arbeitstag begann ca. 2 Stunden später und endete etwas früher als bei den Übrigen. Alles richtete sich nach dem "Vater"!

Das ging jahraus jahrein so, tagaus tagein.  Außer an den Sonntagen lebten die Menschen in einem solchen unmenschlichen Rhythmus. Daher verlor jedes Privatleben seinen natürlichen Sinn. Die Mitarbeiter konnten im Prinzip keine persönlichen Angelegenheiten erledigen. Von der Arbeit früher wegzugehen, zum Beispiel um 22 Uhr, das  war nur mit Erlaubnis eines ziemlich hochgestellten Leiters und nur im Falle schwerwiegender Gründe möglich. Die MVD[13]- Leute erinnern sich jetzt mit Schrecken an diese Ordnung, obwohl noch vor nicht so langem Zeit dieses „Seil“ mitgezogen hatten ,  ein anderes Leben für sich konnten sie sich einfach nicht vorstellen. Der Mensch gewöhnt sich doch an alles!

Endlich konnten die Diplomaten auch an normalen Werktagen ins  Kino oder  Theater gehen, oder einfach Zeit mit ihren Familien verbringen, Spaziergänge machen, was sie früher tatsächlich entbehren mussten. Das alles hat sich schnell auf die Mitarbeiter ausgewirkt , man konnte zusehen , wie sie sich  buchstäblich änderten, wie sie selbstbewusster , lockerer wurden, und in ihre Augen erschien wieder etwas Glanz.

In der Luft schwebten die Vorahnungen weiterer Veränderungen. Zunächst konnte  man nur in persönlichen Gesprächen, sozusagen auf dem Gang hören, aufrichtige Einschätzungen, interessante Gedanken und Ideen. In den unzählbaren Partei- und Gewerkschafts- Versammlungen - oder im Verlauf von Dienstbesprechungen, die sich wenig davon unterschieden, was wir noch aus der  Stalinzeit kannten , konnte man so etwas natürlich nicht hören. Im Übrigen klangen manchmal auch hier mutigen Reden, die übrigens  weder die Unterstützung, noch die  Missbilligung der Anwesenden bekamen. In vieler Hinsicht erklärte sich das mit der Positionierung der Führung, wo der Prozess des Erwachens eines neuen Bewusstseins offenbar gegenüber  der Stimmung der Massen zurückblieb, und irgendwelche reale Differenzierungen  der Kräfte in den oberen Etagen waren noch nicht erfolgt.

Zum Spätsommer 1955 habe ich die Delegierung zur Arbeit in unserer Botschaft in Budapest. Zu dieser Zeit lernte ich den Menschen kennen, der wohl die bedeutendste Rolle in meinem weiteren Schicksal gespielt hat. Ich meine Ju. W. Andropow, der damalige Botschafter der UdSSR in Ungarn. Jurij Wladimirowitsch hat mit mir telefoniert und mitgeteilt, dass meine Entsendung entschieden ist und er im Oktober auf mich in Budapest wartet.

Also, erste Auslandsdienstreise. Für einen beliebigen Diplomaten ist das eine wichtige Etappe nicht nur vom Standpunkt der Karriere, sondern auch für sein ganzes Leben. Gerade im Verlauf der ersten Dienstreise endet meiner Meinung nach die Profilierung des zukünftigen Diplomaten, wenn Sie wollen, des ersten Zyklus der  Ausbildung einer neuen Fachkraft, die auf der Schulbank begann und im Laufe der Arbeit im zentralen Apparat des Ministeriums sich fortgesetzt hat.

Die erste Arbeit wirkt sich auf die Persönlichkeits- Bildung aus : Menschen , die im Ausland, unter für sie neuen Bedingungen, unter Trennung von Zuhause, den Verwandten und Freunde geraten, im Allgemeinen in kleinen Kollektiven tätig sind, öffnen sich unvermeidlich, sie offenbaren umfassender nicht nur ihre dienstlichen, sondern auch die persönlichen Eigenschaften.

Im Übrigen, ich bin mir erst viel später bewusst geworden, nach der Entscheidung  ergriffen mich ganz andere Gedanken und die Gefühle. Es bewegte mich, dass die Arbeit in der Botschaft eine Art ernste Prüfung für einen echten  Diplomaten ist. Ich dachte an die Verwandten und die Familie, die ich jetzt lange nicht sehen werde und   daran, dass zum wiederholten Male ein extremer Wandel der Lebensweise nötig ist, in einer Welt, die für uns ganz unbekannt ist. Es war schade, sich von den neuen Freunden zu trennen, denn wir verstanden  deutlich, dass wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach für lange Zeit trennen, da das Wander- Leben der Diplomaten uns in die verschiedensten  Winkeln der Erdkugel verstreuen kann!

Auf dem Bahnsteig des Bahnhofs hatten sich die nahen Freunde versammelt. nach der kurzen und gar nicht so beschwerlichen Reisevorbereitung. Meine Frau, Lehrerin für  Russisch und Literatur, verlies mit  großen Bedauern die Schule und gab ihre  Schüler ab (viele von ihnen waren übrigens gekommen , um ihre Lehrerin zu verabschieden ), der fünfjährige Sohn, unser Erstling, wir alle spürten ein  frohes und zugleich beunruhigtes Gefühl eines Sprunges , davon waren wir überzeugt , in ein neues, interessantes Leben voller Romantik..

So erinnere ich mich an diesen herbstlichen Morgen auf dem Kiewer Bahnhof der Hauptstadt. Die Dampflokomotive lies einen langen Pfiff ertönen, gewann langsam Fahrt und bewegte uns keuchend vorwärts, immer weiter und weiter,  uns von unserer verhältnismäßig ruhigen und gewohnheitsmäßigen Vergangenheit trennend...

Hinter dem Fenster tauchten die bekannten Felder und Wälder, die seltenen Bahnübergänge  und Dörfer auf und in unseren Augen stand schon Ungarn, ich empfand  schillernde  Hoffnungen, die mit dem lockenden interessanten diplomatischen Dienst zusammenhingen. Natürlich konnte ich damals nicht ahnen, dass die bevorstehende Dienstreise harte Prüfungen bringen wird und ein erster Schritt auf einem schwierigen und steinigen Weg sein wird, der mich über die Wolken der großen Politik bringen wird, und dann in die Gefängniszelle, wo ich nachts heimlich diese Zeilen schrieb...

Ob ich bedauere, dass ich diesen Weg gegangen bin? Wenn ich auf mein langes Leben zurückblicke , kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass es nichts gibt, was ich  bedauere, obwohl ich ehrlich eingestehe, dass manchmal in schlaflosen Nächten, auf der Pritsche liegend und an die Gefängnisdecke schauend dachte, dass ich vieles dafür gegeben hätte, dass jener für mich so schicksalhafte Weg meine Familie nicht betroffen hätte...

Im Übrigen, was auch immer diese flüchtigen Gefühle - ob durch menschliche Schwäche oder Emotionen wegen begangener Fehler - hervorgerufen hat, so kann ich doch mit aller Gewissheit sagen, dass ich diesen Weg, denn ich beschritten hatte,  auch wieder genauso so ein zweites Mal gehen würde, ohne zur Seite abzubiegen!

 

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[1] Fußnoten sind Kommentare oder Erläuterungen des Übersetzers 

[2] Anm. G.J. (Übersetzer ) :

Das  Staatskomitee zur  Außerordentlichen Lage (ГКЧП) war gem. „Wikipedia.ru“ ein selbsternanntes Staatsorgan in der UdSSR, welches vom 18. -21.8.1991 bestand.  Es wurde von hochrangigen Staatsfunktionären und Beamten der Sowjetregierung  gebildet, die gegen die Reform-Politik der Perestroika Gorbatschows  und dessen Pläne zur Umbildung der UdSSR in einen „Bund unabhängiger Staaten“ auftraten.  Kräfte unter Jelzin lehnten eine Unterordnung unter das GKTchP als „antikonstitutionell“ ab. ... Die Aktionen führten zum bekannten „Augustputsch“, getragen von zehntausenden Demonstranten vor dem Weißen Haus. 

Vom 22.bis 29.08. 1991 wurden die Mitglieder des GKTchP und Mitstreiter verhaftet, vom Juni 1992 bis Januar 1993 unter Kautionsbedingungen freigelassen. Im April 1993 begann ein Gerichtsprozess, am 23.02.1994 wurden die in Sachen GKTchP  Verurteilten von der DUMA  amnestiert.

 

Wikipedia.de gibt ihren Lesern leider eine abweichende, antikommunistisch gefärbte Darstellung dieser Ereignisse.

 

[3] G.J.: NÖP: Neue Ökonomische Politik in der UdSSR der 1920- Jahre, im Rahmen derer die Partei/Regierung die Entwicklung des  „kleinen privaten Wirtschaftssektors“ entgegen der Restriktionen nach 1917 förderte, um die Warenproduktion und Versorgung der (Stadt-) Bevölkerung schnell wieder in Gang zu bringen, Anreize zu schaffen und Defizite bzw. Unvermögen der jungen sozialistischen Verwaltung zu überbrücken .   

[4] G.J.: Dieser Glaube an den Sieg der kommunistischen Ideen war, wie selbst ärgste Feinde des Sozialismus allgemein anerkennen ,  bis weit nach dem Sieg der UdSSR über den Faschismus eine starke und echte Triebkraft der Gesellschaft. Nach den wiederholten Anläufen und Misserfolgen der sozialistischen Entwicklung ab den 70-er  Jahren für das Lebensniveau der Menschen, letztlich mit dem leeren und unrealistischen Geschwätz eines Gorbatschow geriet diese These des Glaubes an „die helle Zukunft“ zunehmend zur Parodie für die meisten Menschen in der UdSSR 

[5] Gesellschaft zur Unterstützung der Verteidigung , des Aufbaus des Flugwesens und der Chemie (ОСОАВИАХИМ) - eine sowjetische Organisation , die von 1927 bis 1948 bestand ; der Vorläufer der DOSAAF  ( ДОСААФ).[1]

 

[6] ВЛКСМ- Leninsche Kommunistischer Allunions- Jugendverband 

[7]  In der UdSSR gab es ein einheitliches System der Schulbildung. Die allgemeine Schulbildung schloß nach 10 Jahren in der sog. Mittelschule (средная школа) mit einem Reifezeugnis ab. Dieses war auch die Basis für weiterführende Ausbildungen an Hoch- und Fachschulen. Ein „Abitur der Klasse 12/13“ gab es nicht. Oft wird aber der 10-Kl. Abschluss als „Abitur“ übersetzt.  

[8] Wacław Worowski, 15 .10.1871 года, — 10 .5. 1923) — Russischer Revolutionär und Publizist . Einer der ersten sowjetischen  Diplomaten

[9] WDSCh- wörtl.: Höchste Diplomaten-Schule

[10] Absolventen , die das Studium „mit Auszeichnung“ abschlossen , erhielten in der UdSSR  ihr Diplom mit einem rotem Einband.

[11] Russisch: «отсутствия лидера» wörtlich „Fehlen eines Führers“ wird in der  deutschen Translation vermieden

[12] Russisch: eдинолично- in Russland verbreitete Formel für extrem autarke Entscheidungen einer Person

[13] MVD – Министерство Внешных Дел- Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten