Das Scheitern der Perestroika

 

Auszüge aus 

Jegor Ligatschow „Wer verriet die Sowjetunion“

 

Verlag Das Neue Berlin  ISBN 978- 3-360-02153-3

(Originaltitel  «Кто предал СССР?» Альгоритм, Москва 2010)

Aus dem Russischen von R. Junghanns

Erläuterungen [..] eingefügt von G.J.

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Kapitel:

Das Scheitern der Perestroika-

Grunddefekt  des Systems oder Fehler der Führung

Original : Провал перестройки. Пороки системы или ошибки лидеров?

Trotz der subversiven Tätigkeit feindlicher Kräfte im Innern und von außen her hatte sich die Sowjetunion vorwärtsbewegt. Die Perestroika ist meiner Ansicht nach in zwei Etappen verlaufen.

Die erste Etappe dauerte von 1985 bis 1988, die Erneuerung der Gesellschaft und der Wirtschaft verlief im Rahmen des Sozialismus. In dieser Etappe war es gelungen, das Entwicklungstempo der Produktion des vorangehenden Fünfjahrplans zu übertreffen.

In der Industrie betrug die jährliche Zuwachsrate der Produktion 4% (gegenüber 3% im 11. Fünfjahr­plan), in der Landwirtschaft lag die Zuwachsrate bei 3 % (gegenüber 1 % im vorangehenden Fünfjahrplan). Erstmals wurde der Zuwachs des Nationaleinkommens (neu geschaffene Produktion) ohne Erhöhung der Arbeitskräftezahl erzielt - allein durch die Erhöhung der Ar­beitsproduktivität in der materiellen Produktion.

Der Maschinenbau als die Hauptkomponente des Wirtschaftsplans der Perestroika erbrachte einen Zuwachs von 19%, gemessen am Stand von 1985 bei einem Gesamtzuwachs der Industrie von 13%. Die Produktion von progressiven Ausrüstungen wie computergesteu­erten Werkzeugmaschinen, Bearbeitungszentren und Bearbeitungslinien nach dem Karussellprinzip nahm um 20 bis 40% zu. Die Getreideerzeugung konnte im 12. Fünfjahrplan (1986-1990) um 17% gesteigert werden.

1990 konnte die größte Getreideernte in der gesamten Geschichte der UdSSR eingefahren werden.

In der Wirtschaft vollzog sich der breite Übergang der Betriebe in Stadt und Land zur vollständigen wirtschaftlichen Rechnungsführung und Eigenfinanzie­rung auf Basis der selbsterwirtschafteten Mittel.

In der sozialen Sphäre wuchsen die Einkünfte der Bürger. Für einen durchschnittlichen Arbeitslohn konnte man doppelt so viele Lebensmittel wie heute kaufen, obwohl seit damals zwei Jahrzehnte vergan­gen sind. Wohnraum wurde 20% mehr gebaut als im vorangehenden Fünfjahrplan (über 600 Millionen Quadratmeter). Der gesamte Wohnraum wurde den sowjetischen Menschen kostenlos bereitgestellt. Heute liegt der Kaufpreis für einen Quadratmeter Wohnraum erheblich über der durchschnittlichen Jahresrente. Die Bevölkerung Sowjetrusslands wuchs jährlich um eine Million Menschen. Dies alles war möglich unter den sozialen Bedingungen der Sowjetmacht.

Im [heutigen] bourgeoisen Russland sterben im Durchschnitt jährlich fast 800000 Menschen [mehr als Geburten]. Wenn man bei einer Massenarmut und fehlendem materiellen Auskommen von der Entwicklung einer echten Demokratie spricht, so ist das nichts als leeres Getöne, Betrug. Die bürgerli­che Demokratie in Russland sieht so aus, dass der eine die Brezel bekommt, der andere die Löcher.

 

Trotz der genannten sozialen Leistungen hat die Perestroika letzten Endes eine Niederlage erlitten. Sie verlor ihre demokratische Ausrichtung und fand ihr Ende in einem konterrevolutionären Staatsstreich*, in der Zerstörung der Sowjetmacht und der Zerstückelung der Sowjetunion.

*[Oktober 1993: in einem Staatsstreich unter Führung von Jelzin wurde das demokratisch gewählte Parlament Russlands im sog. Weißen Haus unter Einsatz von Jelzin- treuen Truppen mit Panzern zusammengeschossen, gem. Aussagen von Anwohnern, die Augenzeugen der Ereignisse waren, wurden Hunderte der Sowjet- treuen Verteidiger umgebracht und auf Lastkähnen auf der Moskwa weggeschafft . Noch Wochen später hingen Toten- Schleifen in den Bäumen am Weißen Haus, das Jelzin -Regime traute sich nicht, diese zu entfernen und die Toten ein zweites Mal zu schänden. Diese Schleifen, es waren sehr viele,  haben wir persönlich gesehen und die Erzählungen der Anwohner gehört ]

Nach 1991 begann dann schon ein anderer Abschnitt der Geschichte Russlands - die Restaurierung des Kapitalismus.

 

Warum kam es zu diesem Ende der Perestroika? Woran lag es - an der Krise des sozialistischen Systems oder an den Führungskräften der Perestroika?

Ich gehöre nicht zu denen, die die Perestroika als Büchse der Pandora ansehen, aus der alles Übel und Unheil kam. Aber auch mit denen bin nicht einver­standen, die behaupten, dass das über unser Land gekommene Unglück eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Erneuerung gewesen sei. Die letzte Behauptung könnte mir als früherem Angehörigen der Führungsspitze des Landes vielleicht gelegen kommen, aber die Wahrheit ist mir mehr wert.

Mit Freude erinnere ich mich daran, welchen geis­tigen Aufschwung unser Land in den ersten Jahren der Perestroika erlebte. Zugleich empfinde ich dabei auch Trauer darüber, dass das nun alles vorüber und vergangen ist. Die sowjetischen Menschen erhielten größere wirtschaftliche und politische Freiheiten. In der Gesellschaft vollzog sich ein Prozess der Schaffung von Garantien, die Rückfälle in Gesetzlosigkeit und Repression verhindern sollten. Die Erneuerung aller Sphären des Lebens, die Demokratisierung und die Offenheit - diese wichtigen Merkmale des gesellschaft­lichen Fortschritt - wurden durch eine schnelle wirt­schaftliche Stabilisierung und durch eine stürmische Entwicklung des sozialen und kulturellen Komplexes ergänzt. Die Gesellschaft bewahrte Ruhe, soziale Sta­bilität und Geschlossenheit. Wenn es auch bis zu einer vollen Befriedigung der Bedürfnisse noch weit war, lebten die Menschen doch voller Glauben an eine bes­sere Zukunft.

Die Perestroika erfuhr diese Niederlage, weil die Grundfesten der sozialistischen Ordnung zerstört wur­den: das gesellschaftliche Eigentum und die Planwirt­schaft.

 

Aus der sowjetischen Geschichte ist gut bekannt, dass das System der Planwirtschaft über große Vorzüge verfügt - es erlaubt, gewaltige Kräfte und Mittel konzentriert für die Lösung der wichtigsten gesamtnationalen Schlüsselfragen einzusetzen. So war es in der Zeit der Industrialisierung in den dreißiger Jahren. Weitere Beispiele sind der Aufbruch ins Weltall in den fünfziger und sechziger Jahren und die Schaffung des Erdöl-Erdgas-Petrochemie- Komplexes in Westsibirien, der eine führende internationale Stellung erlangte. Vernünftigerweise kann der große Nutzen, den die Einwirkung der Planung auf die Wirtschaft hat, nicht verleugnet werden. Die Versuche, das Plansystem zu diskriminieren, tragen ein gehöriges Maß an Böswilligkeit in sich. Ich möchte dick unterstreichen: Die Planwirtschaft, die im großen Maßstab zum ersten Mal in der UdSSR erprobt wurde, ist eine Errungenschaft von großer Bedeutung für die gesamte Menschheit und wird daher als Instrument für die Steuerung von Entwicklungsprozessen mittlerweile weltweit eingesetzt. Genauso wie übrigens auch das bei uns geschaffene staatliche System der sozialen Absicherung der Berufstätigen.

Andererseits muss auch gesagt werden, dass die Planwirtschaft im Laufe der Zeit Verzerrungen erfuhr. Man war schließlich dahin gekommen, dass von oben nicht nur die Zielprogramme, nicht nur die Hauptrichtungen der Entwicklung ausgearbeitet wurden, sondern buchstäblich alles - bis hin zur hundertprozentigen Verteilung der Ressourcen und der Lohnfonds. Die Wirtschaft sah sich eingezwängt von ungezählten Anweisungen und begann, in Lähmung zu verfallen.

Nach 1985 wurde uns dies sehr schnell bewusst, und wir machten uns an die Korrektur der entstandenen Lage, um die Volkswirtschaft von der kleinlichen Bevormundung durch das Zentrum zu befreien, den Anteil der staatlichen Planung allmählich auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren und der Planung selbst ihr ursprüngliches Wesen zurückgegeben, das in der flexiblen großmaßstäblichen Steuerung des Einsatzes der materiellen und finanziellen Ressourcen und des Arbeitskräftepotenzials im Interesse der gesamten Gesellschaft besteht. Bildlich gesprochen kann das wahre Wesen der zentralen Planung mit dem Wirken eines Architekten gleichgesetzt werden. Der Architekt arbeitet den Plan eines Bauwerks aus, welche Methoden und welche Technik aber zu dessen Errichtung im Einzelnen eingesetzt werden, das überlässt er den Bauleuten.

Wenn die Dinge so angegangen werden, gestaltet sich die zentrale Planung nicht als eingeengte technische Frage, sondern steht im engen Zusammenhang mit den politischen Entscheidungen, die von der Füh­rung des Landes getroffen werden, im Auftrag des Kongresses der Sowjets oder der regierenden Partei.

Die Gegner des Sozialismus stellten die beschriebenen Verzerrungen des Plansystems allerdings als unabänderliches Merkmal der sozialistischen Ordnung hin und machten es sich zum Ziel, das Plansystem von Grund auf zu zerstören, gewillt, eine absolute wirt­schaftliche Freiheit herzustellen, die freilich so nirgends in der Welt zu haben ist.

Wie entwickelten sich die ökonomischen Gegebenheiten unseres Landes? Die Regierung der UdSSR bereitete Ende 1987 den Entwurf des Staatsplans der sozialen und ökonomischen Entwicklung des Landes für das Jahr 1988 vor und legte ihn dem Politbüro vor. Dieser Plan wies Neuerungen auf. Insbesondere wurde eine neue Ordnung für den Verkauf der produzierten Erzeugnisse eingeführt. 5 bis 10% der Produktion sollten nun nach Ermessen des Betriebes zu frei vereinbarten Preisen abgesetzt werden können, der Rest sollte wie bisher über Staatsaufträge realisiert werden. Es bestand die Ansicht, dass sich dieser Prozess allmählich, entsprechend der gesammelten Erfahrung entwickeln sollte. Gorbatschow und Jakowlew bestanden aber auf einer massiven Reduzierung der Staatsaufträge, sofort innerhalb eines Jahres sollte ein wesentlich größerer Teil der Produktion auf Vertragsbeziehungen umgestellt werden. Aufrufe zur Umsicht und zum allmählichen Vorgehen wurden abgewiesen. Ich werfe mir vor, dass ich damals nicht entschiedener Position eingenommen hatte. Eine goldene Regel wurde hier außer Acht gelassen: »Erst bedacht, dann gemacht.«

Was waren die Folgen? Die denkbar fatalsten. Monopolstellungen, die in der Planwirtschaft keine Gefahr dargestellt hatten, eröffneten bestimmten Herstellern die Möglichkeit, für ihre Produkte exorbitante Preise zu fordern. Diese Betriebe kamen so zu immensen Einnahmen, ohne dass sie dafür intelligenzintensive Technologien hätten einführen müssen. Die frei vereinbarten Preise stimulierten also nicht den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, sondern bremsten ihn aus. Der Einnahmenzuwachs floss im Wesentlichen in die Arbeitslöhne. Die Geldeinnahmen wuchsen 1990 gegenüber dem Vorjahr um fast 90%, die Erzeugung von Konsumgütern um 19%.

Somit war das überaus wichtige Gleichgewicht zwischen dem Tempo des Wachstums der Arbeitsproduk­tivität und dem Tempo des Lohnzuwachses, zwischen den Geldmengen und den Warenmengen verletzt worden, was in eine drastische Zunahme des Defizits an Versorgungsgütern für die Bevölkerung mündete. Die Folge waren gähnend leere Warenregale in den Läden, die Desorganisation des Verbrauchermarktes und Frustration unter der Bevölkerung. Der Finanzüberhang überstieg 100 Milliarden Rubel.

Die KPdSU hatte in voller Übereinstimmung mit der Grundidee der Perestroika die Losung der Vervollkommnung der sozialistischen Produktionsverhältnisse und der Vielfalt der Realisierungsformen des sozialistischen Eigentums verkündet. Vorgesehen war die breite Entwicklung des kooperativen, des Pacht-, des Aktien- und anderer Formen des kollektiven Eigentums. Diese Losung blieb nicht nur auf dem Papier, sondern wurde schnell mit Leben erfüllt. So wurde schon im Frühjahr 1988 das Gesetz über die Kooperationen angenommen, ein, gelinde gesagt, ungenügend durchdachtes Gesetz, das schwerwiegende Folgen nach sich zog.

Und auch ganz generell in der Frage der verschiedenartigen Formen des sozialistischen Eigentums kam es im Verlaufe der Entwicklung zu seltsamen und rätselhaften Wandlungen. Ich habe bereits davon geschrieben, dass dieses von Gorbatschow offiziell verkündete Prinzip der »Vielfalt der Formen des sozialistischen Eigentums« in einen Aufruf zur »Vielfalt der Eigentumsformen« transformiert wurde - was eine Wandlung der Politik von Grund auf darstellte. Das Erstaunliche dabei war, dass der Generalsekretär des ZK der KPdSU, der zu jener Zeit die wichtigsten Fäden der Ideologie in seinen Händen hielt, kein einziges Mal auf die allmähliche Entstellung der von der Partei aufgestellten Losung der Entstaatlichung reagierte. Das war ja nichts weniger als ein Wechsel in der generellen Ausrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Entstaatlichung wurde in vielen Fäl­len in eine verbrecherische Privatisierung verwandelt, in den massenhaften Ausverkauf der Produktionsmittel zum Spottpreis, zur Verschleuderung in private Hand.

Erst später wurde klar, dass die Proklamierung des »heiligen Prinzips des Privateigentums« eine vorbereitete Aktion war. Dazu musste zuvor erst die Planwirtschaft zerrüttet und zerstört werden. Und diese Aufgabe wiederum wurde mit einer Propagandaatta­cke auf die Stäbe eingeleitet - auf die Verwaltungszentralen, wobei der Hauptschlag dem »administrativen Kommandosystem« galt. Ich kann dafür bürgen, dass niemand klar sagen kann - auch nicht die Schöpfer dieser Propagandaschablone -, was das »administrative Kommandosystem« eigentlich sein sollte.

Aber worauf man abzielte, das zeigte sich bald. Es ging um Angriffe gegen alles Zentrale - von der Staatlichen Plankommission bis hin zu den Streitkräften. Gegen alles, was der Großmacht Sowjetunion den Zusammenhalt eines einheitlichen Staates gab. Unter der Losung der »Absage an die Kommandomethoden« wurde in Wirklichkeit die Demontage der staatlichen Strukturen eingeleitet, machte man sich an die Zerstörung der wirtschaftlichen Verflechtungen des einheitlichen Volkswirtschaftskomplexes. Die radikalen rechten Ökonomen suggerierten darüber hinaus die Idee der Aufsplittung der großen Wirtschaftseinheiten und Agrarbetriebe in kleine Strukturen, angeblich mit dem Ziel, bessere Bedingungen für die wirtschaftliche Selbständigkeit zu schaffen.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Gespräch mit dem amerikanischen Banker John Crystal aus Iowa, der früher Farmer war und seinen Weg in Coon Rapids bei dem seinerzeit berühmten Roswell Garst * begonnen hatte. Ich traf Crystal in Moskau 1989, nachdem er das Gebiet Moskau und in der Ukraine das Gebiet Poltawa besucht hatte. Der Gast aus Iowa fragte mich ganz direkt: »Mister Ligatschow, Sie beschäftigen sich mit Agrarpolitik. Sagen Sie, hat man in der UdSSR wirklich beschlossen, von den Kolchosen und Sowchosen abzugehen und sich mit der Schaffung kleiner Betriebe zu befassen?«

* Raswell Garst: Farmer und Hybridmais-Züchter aus Coon Rapids/ Iowa, der während der Regierungszeit Chruschtschows mehrfach die UdSSR besuchte und seine Erfahrungen im Maisanbau vermittelte. Er galt als ein Botschafter des guten Willens in der Zeit des Kalten Krieges. Chruschtschow suchte ihn während seines USA-Aufenthalts 1953 in Coon Rapids auf.

Ich beantwortete seine Frage mit einer Gegenfrage: »Wie sehen Sie denn dieses Problem?«

»Diejenigen, die die großen Wirtschaften in kleine zerstückeln wollen, sind wohl nicht ganz richtig ...«, erwiderte Crystal, wozu er ausdrucksvoll den Zeigefinger in Schläfennähe brachte. »Weltweit und auch bei uns in Amerika läuft ein stürmischer Prozess der Konzentration und des Zusammenlegens von Farmwirtschaften. Nur große Wirtschaften können die neuen kostenintensiven Entwicklungen der Agrarwissenschaften und -technik richtig einsetzen.«

Mit der Beseitigung der Sowjetmacht und der Restauration des Kapitalismus in Russland erfuhr die Landwirtschaft einen tiefen Niedergang. Die Großbetriebe - die Kolchosen und Sowchosen - sind liquidiert, zehntausende Dörfer gerieten in die völlige Ver­wahrlosung. In einer Reihe von Kennziffern liegt die Landwirtschaft Russlands derzeit nicht nur unter dem Stand der Sowjetzeit, sondern sogar unter dem des zaristischen Russlands. Fast die Hälfte der im Land verbrauchten Lebensmittel wird aus dem Ausland eingeführt. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch und Molkereiprodukten liegt gegenwärtig[ d.h. 2010] 30 bis 40% unter dem der Sowjetzeit.

Es ist angebracht, dass wir vieles, sehr vieles übernehmen - solche Entwicklungen des Kapitalismus wie die Hochtechnologien, die Organisation der Produktion oder auch die Infrastruktur des Marktes. Nur eines nicht: das Prinzip der uneingeschränkten Herrschaft

des privatkapitalistischen Eigentums! Dieses grundlegende, systembestimmende Prinzip ist entscheidend für das Wesen dieser gesellschaftlichen Ordnung. Es geht hierbei ganz und gar nicht um Dogmen. Durch das Umschwenken auf den Weg des Kapitalismus wurde unser Land zurückgeworfen. Den qualvollen Weg, den viele heute entwickelte kapitalistische Länder lange durchlaufen mussten und auf dem sich die Entwicklungsländer noch immer befinden, muss unser Land noch einmal zurücklegen! Das Privateigentum bringt die Menschen nicht zueinander, sondern trennt sie, und es entfremdet auch den Produzenten von den Produktionsmitteln.

Es gibt aber einen anderen Weg zum Fortschritt - über das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln. Diesen Weg haben wir nach der Oktoberrevolution eingeschlagen. Argumentationen aller Art, dass das ein Fehler gewesen sei, sind ungerechtfertigt. Es gibt eine unanfechtbare Tatsache: Die UdSSR war zur zweiten Macht in der Welt geworden! Es ist wahr, dass das Volk immense Schwierigkeiten zu durchstehen hatte, aber es gelang, im Land ein gewaltiges industrielles und wissenschaftlich-technisches Potenzial zu schaffen. Und war es denn nicht so, dass Generationen von Werktätigen in den kapitalistischen Ländern auf ihrem Weg zum Fortschritt keine geringeren Entbehrungen hatten tragen müssen? Dabei kamen ihnen übrigens, was heute weltweit anerkannt wird, solche Errungenschaften des Sozialismus wie die sozialen Garantien oder die Planung im großen Maßstab nicht zugute. Lenin hat als Vermächtnis hinterlassen, dass »man nicht vorwärts schreiten kann, ohne zum Sozialismus zu schreiten«*.

* Aus W. I. Lenin: »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämp­fen soll«. Zitiert aus: Ausgewählte Werke Bd. II, Berlin: Dietz 1955.

Was ist der Sozialismus in meinem Verständnis?

Die gesellschaftliche Grundlage des Sozialismus ist das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln in den verschiedenen Formen, bei denen der Mensch zum Miteigentümer wird und bei denen Plan und Markt kombiniert werden. Die politische Grundlage sind demokratische Sowjets aller Ebenen. In moralischer Hinsicht lässt sich diese Gesellschaft außer von den sozialistischen Werten auch von den allgemein menschlichen Werten leiten. In sozialer Hinsicht ist das eine Gesellschaft der Gerechtigkeit, die frei ist von Ausbeutung, nationaler Unterdrückung, eine Gesellschaft, die keine Arbeitslosigkeit kennt und in der jeder das Recht auf Arbeit hat.

Auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei Frankreichs im Dezember 1987, an dem ich als Leiter der Delegation der KPdSU teilnehmen durfte, berichtete ich in meiner Rede davon, dass die Beamten, die im Verlauf der Perestroika aus dem Verwaltungsap­parat freigesetzt werden, in den Betrieben bestimmte Vergünstigungen und Ausgleichszahlungen erhalten. Emotional besonders stark aufgenommen wurde meine Mitteilung, dass ihnen das verfassungsmäßige Recht auf Arbeit garantiert sei. Die Anwesenden erhoben sich nach diesen Worten und applaudierten. Später erkundigte ich mich bei Georges Marchais, warum die Delegierten diese Passage meiner Rede so enthusiastisch aufgenommen hatten. Er erklärte mir, dass viele der Delegierten aus eigener Erfahrung wüssten, was Arbeitslosigkeit heißt. Noch mehr leben in ständiger Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Mittlerweile haben Millionen Menschen, die in der Sowjetunion reale Garantien auf Arbeit hatten, die Herrlichkeiten des »kapitalistischen Paradieses« auskosten können.

 

Zum Thema Erfolge und Fehlkalkulationen der Perestroika möchte ich zum Abschluss noch auf einige wichtige Fragen eingehen, die den Verlauf der Umgestaltungen wesentlich beeinflusst hatten.

Die erste Frage betrifft die Konversion der Rüstungsindustrie.

Nach dem April 1985 stellte sich uns die Aufgabe der Reduzierung der Rüstungsausgaben. Ohne dem wäre es nicht möglich gewesen, große Sozialprogramme zu realisieren. Die Wirtschaft kann nicht über Jahrzehnte hinweg normal laufen, wenn die Aufwendungen für das Militär 20% des Nationaleinkommens betragen. Dabei war das Anwachsen der Rüstungsaufwendungen in den vorangegangenen Jahren kein voluntaristischer Akt gewesen, sondern von der Notwendigkeit diktiert, dass die UdSSR das militärstrategische Gleichgewicht zu den USA durchsetzte. Diese Aufgabe war erfolgreich gelöst worden, was einen wesentlichen Einfluss auf das Schicksal unseres Planeten hatte.

Nachdem aber die Gefahr eines nuklearen Zusammenstoßes wesentlich zurückgegangen war, begann die Konversion der Rüstungsindustrie. Zur Mitte der achtziger Jahre wurden etwa 40% der Kapazitäten des militärisch-industriellen Komplexes (MIK) für die Herstellung von Agrartechnik, Rundfunk- und Fernsehgeräten und anderen zivilen Gütern genutzt. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, während der Perestroika, wurden für den MIK zwei Konversionsprogramme besonders großen Ausmaßes ausgearbeitet und ihre Realisierung eingeleitet: die Herstellung von modernen Ausrüstungen für die Lebensmittel- und die Leichtindustrie. Dafür stellte der Staat Dutzende Milliarden Rubel bereit.

Zur Lösung der Aufgaben wurden wissenschaftliche und Projektierungs- und Konstruktionseinrichtungen,sowie große Werke des MIK herangezogen. In den Ministerien der Rüstungsindustrie wurden neue Struktureinheiten gebildet. Es erfolgte eine Spezialisierung der Betriebe nach den Arten der erzeugten Maschinen und technologischen Linien. Im ZK der KPdSU, im Ministerrat und in den Ministerien waren Abteilungen und konkrete Verantwortliche festgelegt worden, die die Erfüllung dieser Programme kontrollierten.

Leitende Mitarbeiter der Ministerien und verantwortliche Konstrukteure für Militärtechnik machten sich in einer Reihe westlicher Länder mit der Produktion der renommiertesten Hersteller von Ausrüstungen für die Lebensmittel- und Leichtindustrie bekannt. Um die Kontrolle über diesen Prozess zu sichern, führte das ZK der KPdSU Beratungen im Unionsmaßstab und in einzelnen Regionen durch.

In Moskau und in den Landesregionen wurden jährlich Ausstellungen der Technik für die Lebensmittelindustrie, die aus den Werkhallen der Rüstungsindustrie kam, abgehalten. Auf den Treffen mit Konstrukteuren aus der Rüstungsindustrie (von denen ich viele hatte) hoben die Konstrukteure immer wieder hervor, dass die Herstellung moderner Technik für die Leicht- und die Lebensmittelindustrie nicht weniger kompliziert ist als die der Militärtechnik. Diese Erkenntnis war für sie eine regelrechte Offenbarung.

Es lief also eine echte Konversion. Die zerstörerischen antisozialistischen Kräfte behinderten leider die Verwirklichung der ersten Pläne der Konversion des MIK.

Mit der Machtergreifung der Pseudodemokraten setzte der Niedergang des militärisch-industriellen Komplexes ein. (Auch wenn Russland heute ein großer Waffenexporteur ist, war das ein Niedergang, denn die Waffenproduktion war ja nur ein Teil der Möglichkeiten dieses Komplexes.)

Die zweite Frage betrifft den Einfluss der KPdSU auf die Wirtschaft. Im Verlauf der Perestroika wurden die Kommunistische Partei und ihr Zentralkomitee aus der Wirtschaft herausgedrängt. Heute weiß man, dass das einer der Schritte war, mit denen die Partei zunächst in ihren Einflussmöglichkeiten beschnitten werden sollte, um sie dann zu verbieten.

Historisch war es Jahrzehnte lang so gewesen, dass sich viele Parteigremien in die operative Produktionstätigkeit einmischten, bis hin zu kleinlicher Bevormundung. Und so war es dann kein Zufall, dass gleich nach dem Großen Vaterländischen Krieg die Frage nach der Trennung der Funktionen der Partei und der operativen Leitung der Wirtschaft aufkam. Die operative Einmischung der Parteigremien in die Produktion wurde schließlich im Wesentlichen eingestellt.

In einer bestimmten Etappe der Perestroika wurde dieses richtige Herangehen merklich verzerrt. Es ging nun darum, die Partei überhaupt aus der Ausarbeitung des Wirtschaftskurses auszuschalten. Die Wirtschaft sollte im Grunde »entpolitisiert« werden. Das kann aber nicht sein! Lenin hatte einst den Ausspruch »Die Politik ist der konzentrierte Ausdruck der Ökonomik«* geprägt, und die Richtigkeit dieser Worte ist durch den Lauf der Entwicklung bestätigt worden. In allen Ländern weltweit erarbeiten die politischen Parteien, und nicht nur die gerade regierenden Parteien, ihre Wirtschaftsstrategie. Bei uns aber war die Trennung der Aufgaben der Wirtschaft und der Partei schließlich bis zum Absurden getrieben worden. Die Partei musste gegenüber dem Volk Rechenschaft ablegen für die Beschlüsse des Generalsekretärs Gorbatschow, während sich dieser mit den Vertretern der Partei über seine Beschlüsse schon nicht mehr beriet!

* Zitiert nach Lenin. W. I.: Werke. Bd. 32. Berlin: Dietz 1967, S. 73.

Die KPdSU war de facto von der Ausarbeitung und Erörterung des Programms zum Übergang des Landes in die Marktwirtschaft ausgeschlossen. Erst im Oktober 1990 fand ein ZK-Plenum statt, auf dem die Frage des Übergangs der Volkswirtschaft auf Marktbedingungen im Nachtrab behandelt wurde. Das gleiche Schicksal ereilte auch das Antikrisenprogramm.

Dahinter stand offensichtlich die Absicht, die Partei von der Wirtschaftspolitik fernzuhalten und sie zu einer Geisel der Fehlentscheidungen des Präsidenten zu machen.

Die Natur lässt aber bekanntlich keine Leere zu, und eine fette Pfründe ist schnell besetzt. Die »Demokraten« hatten die Sache in ihre Hand genommen und das Programm der »500 Tage« zur Etablierung des Kapitalismus in der UdSSR vorgelegt.*

* Das »Programm der 50Q Tage« wurde im August 1990 als Reaktion auf die damalige Wirtschaftskrise in der UdSSR auf Initiative von Gorbatschow und Jelzin von einer Arbeitsgruppe unter Jawlinski und Schatalin ausgearbeitet und sah den Übergang zur Marktwirtschaft innerhalb von 500 Tagen vor als Schocktherapie mit Dezentralisierung der Wirtschaftsleitung, Privatisierung des Staatseigentums, Förderung des privaten Unternehmertums, Marktpreisen, Integration in das Weltwirtschaftssystem, Dezentralisierung mit Übergang von Vollmachten von der Moskauer Zentralmacht an die Republiken. Die Ausarbeitung des »500-Tage-Programms« stand im Gegensatz zu dem von den Regierung Ryshkow parallel ausgearbeiteten Programm »Hauptrichtungen der Entwicklung« des allmählichen Übergangs zur Marktwirtschaft über 6 Jahre. Angesichts der komplizierter gewordenen wirtschaftlichen und politischen Situation (Krise, Konfrontation zwischen KPdSU und Radikalreformern bei schwächer werdender Position der KPdSU) war die Realisierung des Ryschkow- Programms schließlich nicht mehr möglich. Aufgrund der Ablehnung seines Programms [Gorbatschow schlug die Erarbeitung eines Kompromissprogramms aus beiden Programmen vor] trat Ryschkow von seinem Amt zurück. Auch das »500-Tage-Pragrarnm« wurde als solches nicht umgesetzt, die meisten seiner Grundthesen bildeten aber die Grundlage der politischen und ökonomischen »Schocktherapie« der Jelzin-Regierung.

Es war mehr oder weniger dasselbe geschehen wie in der schon beschriebenen Situation im Wahlkampf, da der Kommunistischen Partei die Hände gebunden wurden, während ihre Opponenten volle Handlungsfreiheit hatten.

Es kam schließlich zu einer »Flucht« der Parteigremien vor den Wirtschaftsfragen - anders kann man es nicht nennen. Notwendig gewesen wäre eine Übergangszeit, um den Sowjets alle Fäden zur Lenkung der Wirtschaft in die Hände zu geben, aber auf lokaler Ebene hatte sich alles ganz anders abgespielt: Auf ein Kommando aus dem ZK hin trat man einfach ab und ließ die noch schwachen Sowjets mit der gewaltigen Vielzahl komplizierter Wirtschaftsprobleme allein stehen.

In den sechziger Jahren besuchte ich den Schiffsbaubetrieb »Krasnoje Sormowo« in Gorki. Die Werft wurde damals rekonstruiert, da die alten Werkhallen aus vorrevolutionärer Zeit zu eng geworden waren. Das lief durchdacht ab und hatte etwas Symbolisches an sich. Das alte Gebäude blieb zunächst stehen, die neuen weiträumigeren und höheren Hallenkonstruktionen wurden um dieses herum und darüber gebaut. Erst nachdem das Dach der neuen Halle geschlossen war, begann man mit dem Abriss des alten Baus im Innern. Hier hatte man mit Verstand geplant!

Bei der Übergabe der Machtfunktionen von den Parteigremien an die Sowjets hatte man analog vorgehen sollen.

Ja, und das pseudodemokratische Prinzip der Wählbarkeit der Betriebsleiter - wie viel Schaden hatte es angerichtet! In keinem Land der Welt werden Manager gewählt - überall werden sie ernannt. Viele hervorragende Leiterpersönlichkeiten verloren damals ungerechtfertigterweise ihre Funktion. Diese Kampagne fand ihr Ende damit, dass das Gesetz über den sozialistischen Betrieb abgeändert wurde.

 

Eine wichtige Rolle spielte in der Perestroika auch die Agrarfrage.

Über Jahrzehnte hinweg wurden die Arbeitskräfte aus dem Dorf weggeholt, wurde das Dorf bei den Mitteln für die soziale, kulturelle und technische Entwicklung übergangen. So war das in der Zeit der Industrialisierung. In den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges hatte das Dorf alles auf dem Altar des Vaterlandes geopfert. Und auch in den folgenden Jahren lief die industrielle Entwicklung der UdSSR im Wesentlichen zu Lasten des Dorfes. Ausländische Anleihen erhielten wir keine, wir schufen alles mit eigener Arbeit. Kolonien und abhängige Länder raubten wir nicht aus. Die Fehler lagen in der Agrarpolitik selbst.

Als  ich 1988 beauftragt worden war, mich mit der Ag­rarpolitik zu befassen, versuchte ich gemeinsam mit anderen Genossen alles nur Mögliche, um Schluss zu machen mit der falschen Praxis, das Dorf ohne Mittel und Ressourcen stehen zu lassen. Der Bauer sollte in den Mittelpunkt des Lebensmittelproblems gerückt werden. Ich ging davon aus, dass die Agrarpolitik keine Vorschrift zu sein hat, wie der Bauer pflügen und säen muss und wie er die Kühe melkt. Darum hat sich die Partei nicht zu kümmern. Zur Lösung des Lebensmittelproblems ist es notwendig, dass die Interessen der Bauernschaft und aller Beschäftigten des agrarindustriellen Komplexes wahrgenommen und die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt und Land gestärkt werden, um die Lebensmittelversorgung des Staates zu sichern - so hatte die Agrarpolitik der KPdSU zu sein. Der Agrarsektor machte mehr als ein Viertel des Nationaleinkommens und ein Viertel der Produktionsgrundfonds  [d.h. des Anlagevermögens] aus.

Beim Agrarsektor darf nicht nur die Landwirtschaft gesehen werden. Ins Blickfeld gehören auch der landwirtschaftliche Maschinenbau, das Bauwesen, die Lagerung und Verarbeitung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die Wissenschaft, die Umgestaltung des Dorfes, aber auch die Beschäftigten dieses Bereiches und überhaupt die Menschen. Der Agrarindustriekomplex sicherte 70 Pro­zent des Warenumsatzes der gesamten Sowjetunion. Alles in allem war das der größte Sektor der Volkswirtschaft.

Gleich nachdem ich als Vorsitzender der Agrar- Kommission des ZK bestätigt worden war, machte ich mich zusammen mit dem Sekretär des ZK und Politbüro-Mitglied Viktor Nikonow und dem Leiter der Landwirtschaftsabteilung des ZK Iwan Skiba an die Vorbereitung des für den März 1989 anberaumten ZK-Plenums. Viktor Nikonow und Iwan Skiba kannten sich in den Problemen der Agrarindustrie übrigens bestens aus, denn sie hatten auf diesem Gebiet viele Funktionen in der Wirtschaft und in der Parteiarbeit ausgeübt. (Das war anders als heute, da der Landwirtschaftsminister seiner Ausbildung und Erfahrung nach Arzt ist und der Verteidigungsminister noch nicht einmal die kleinste militärische Einheit kommandiert hat.[* Der Autor bezieht sich hier auf die Situation zum Zeitpunkt des Erscheinens der russischen Ausgabe seines Buches - 2010.] Das Referat auf dem Plenum trug Gorbatschow vor. Auf diesem Plenum wurden die Agrarpolitik der KPdSU der Perestroika-Periode, ihre Ziele, Hauptrichtungen und Prinzipien festgelegt. Dazu gehörten die Vervollkommnung der ökonomischen Verhältnisse in der Landwirtschaft, der wissenschaftlich- technische Fortschritt, die Rekonstruktion der Lebensmittelindustrie und der Lagerkapazitäten sowie die soziale Umgestaltung des Dorfes.

Der Bauer wurde ins Zentrum der Politik gestellt.

Dabei liefen heftige Debatten, insbesondere zum Problem der materiell-technischen Ausstattung des Dorfes. An ihnen beteiligten sich unter anderem Gor­batschow, Ryshkow, Nikonow, Worotnikow und schließlich auch ich selbst. Wir gingen davon aus, dass in der Landwirtschaft die Steigerung der Investitionen um ein Prozent einen Zuwachs an Produktion von höchstens 0,4-0,6 Prozent erbringt, was von der Praxis im eigenen Land und weltweit belegt wurde. Wenn wir die Produktion auf dem Lande um 25-30 Prozent steigern wollten, mussten wir dem Dorf also 50-60 Prozent mehr Ressourcen geben.

In den achtziger Jahren war unser Bauer technisch etwa so ausgestattet wie der amerikanische Farmer in den fünfziger Jahren. (Im heutigen Russland sieht es viel schlechter aus.) Aus der Geschichte der Landwirtschaft der USA ist bekannt, dass die Farmer zu jener Zeit Getreideernten von 18-20 Dezitonnen einbrachten und die Milchleistung je Kuh 2800 Kilogramm betrug. Das waren die Werte, die bei uns Ende der achtziger Jahre erreicht wurden. Die Energieausstattung unserer Bauern betrug nur ein Viertel der der amerikanischen Farmer. Dazu muss man wissen, dass das natürliche biologische Potenzial unserer Felder lediglich 40% von dem beträgt, das die Felder in den USA aufweisen.

Will man Ernten auf dem Niveau der USA erzielen, benötigt man hier eine noch höhere Energieausstattung. Daran musste ich immer wieder erinnern - auf dem ZK-Plenum, im Politbüro und auf dem II. Kongress der Volksdeputierten. Nicht umsonst heißt es: Wenn es dem Bauern schlecht geht, kann es der gesamten Gesellschaft nicht gut gehen.

Der Aufruf der zerstörerischen Demokraten, die Kolchosen und Sowchosen aufzulösen und den Boden in private Hand zu geben - nach zwei, drei Jahren wäre die Lebensmittelversorgung gesichert -, folgte einer gefährlichen Illusion, war politisches Abenteurertum. Die Zerstörung der Kolchosen und Sowchosen ist der direkte Weg zum Verfall der Landwirtschaft (und darüber hinaus). Mit der Restaurierung des Kapitalismus ist es auch soweit gekommen. Der Anteil der kleinen privatwirtschaftlichen Betriebe* an der landwirtschaft­lichen Produktion der Russischen Föderation liegt heute lediglich bei einer Größenordnung von 5%.

....

*Die kleinen privatwirtschaftlichen Betriebe in der Russischen Föderation, die sogenannten »Farmerbauernwirtschaften« , können von einem Einzelbau­ern allein oder mit seiner Familie oder aber von mehreren Bürgern betrieben werden, wobei nach dem Gesetz in jedem Fall der Betriebsleiter als Einzelbauer gilt.

Das März-Plenum 1989 hatte wichtige Beschlüsse angenommen. Die verschiedenen Formen des Wirtschaftens auf dem Lande wurden festgeschrieben und gleichgestellt, die Selbständigkeit von Kolchosen und Sowchosen wurde wesentlich erweitert. 1990 waren nach dem Agrar-Plenum nicht einmal zwei Jahre vergangen, für die Lösung von Agrarproblernen eine geringe Zeitspanne. Und trotzdem brachten Kolchosen und Sowchosen nun die größte Getreideernte ein und erzielten das größte Milchaufkommen.Zum ersten Mal verblieb das gesamte über den Staatsauftrag hinaus geerntete Getreide in der Verfügung der Erzeuger.

In der Zeit der Restaurierung des Kapitalismus kam über die Bauern aber ein anderes Unheil: die Schere zwischen den Preisen für landwirtschaftliche Produkte und Industrieerzeugnisse, der nichtäquivalente Austausch zwischen Stadt und Land. Während die Machtorgane mit der Ausarbeitung von Programmen unterschiedlichster Art für die »Wiedergeburt des Dorfes« befasst waren, sank die Produktion. Den Worten nach hatte der Agrar-Industrie-Komplex die Priorität, in der Realität beobachteten wir eine Reduzierung der Ressourcen für das Dorf.

Zudem hatten die Pseudodemokraten die Tore des Binnenmarktes Russlands weit für den Westen aufgetan, womit sie die Landwirtschaft in den Ruin getrieben haben.

Insgesamt zeigt sich, dass der Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und der Zusammenbruch der Sowjetunion selbst nicht hervorgerufen wurden durch das System, das über alle Jahre der Geschichte der UdSSR eine Lebensfähigkeit und Schöpferkraft ohnegleichen bewiesen hat, und dies selbst in den Jahren, in denen es Deformationen ausgesetzt war.

 

Die Gründe für das Scheitern der Perestroika und den Zerfall der UdSSR liegen darin, dass es unter den Mitgliedern der Führung der Partei, des Staates und der Unionsrepubliken Karrieristen, nationalistische Separatisten und politische Wendehälse gab. Wir hatten es zu tun mit einer ganzen Reihe von Kommunisten in leitenden Stellungen, die ihre politischen Überzeugungen abgelegt hatten. Sie alle hatten nun großen Besitz, persönlichen Reichtum und unbeschränkte Macht über das Volk zu ihren ersehnten Zielen und ihrem Lebenssinn gemacht. Die Kommunistische Partei und die Sowjetmacht hatten solche Ziele nicht zugelassen. Die Lebenspläne dieser Personen gleichen sehr den Träumen des Barons aus Puschkins »Geizigem Ritter«. Ihn beherrscht die Wunschfantasie, dass er sein den Menschen abgepresstes Gold zum Berg aufhäuft, von dem er ausrufen kann: »Ich kenne keinen Herrscher über mir, nein, mir ist alles Untertan.«**nach Puschkin zitiert.

 

Ich werde immer wieder gefragt: Wer aber war denn der Hauptakteur bei der Zerrüttung der Sowjetunion? Wer trägt die Schuld an all dem Übel, das mit schrecklicher Gewalt über das Volk hereingebrochen ist? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Doch mit der Zeit hat sich die Antwort herauskristallisiert: Gorbatschow. In meinem Buch habe ich versucht, anhand wesentlicher Episoden aus meinem persönlichen Erleben und anhand von Schlussfolgerungen zu begründen, warum ich Gorbatschows Rolle eben so sehe.

Zum hundertsten Geburtstag von Andrej Gromyko im Jahre 2009 hat sein Enkelsohn Alexej Erinnerungen über seinen berühmten Großvater veröffentlicht. In einem Interview anlässlich des Jubiläums erinnerte er sich: »Er unterstützte die Perestroika mit ganzem Herzen. Aber nach einer bestimmten Zeit überkam ihn Enttäuschung.Im Jahr 1989 hatte er über Gorbatschow gesagt: »Die Generalsmütze passt nicht für den Mischka.« Erinnern wir uns: Es war eben Andrej Gromyko gewesen, der Gorbatschow für den Posten des Generalsekretärs empfohlen hatte. Wie bitter für ihn, sich in der Person Gorbatschows so getäuscht zu haben.

 

Es fand sich aber auch ein Akteur, der das Werk Gorbatschows fortgeführt hat: Boris Jelzin. Er hat es dahin gebracht, die Bürger eines mit Naturreichtümern ungemein gesegneten Landes in die Verarmung zu führen. Diese Rolle hat er bis zu Ende ausgespielt.

 

Auf der XIX. Parteikonferenz 1988 hatte ich ausgerufen: »Boris, du hast nicht recht! [...] Du verfügst über Energie, aber deine Energie ist nicht schöpferisch, sondern zerstörerisch.« Diese Worte erwiesen sich als zutreffende Prophezeiung. Ich wäre sehr froh, wenn ich mich hier geirrt hätte.

 

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